Bundesverfassungsgericht Beschluss03.12.2025
"Der Spiegel" gewinnt im Streit um Verdachtsberichterstattung vor dem BundesverfassungsgerichtErfolgreiche Verfassungsbeschwerde des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL zur Verdachtsberichterstattung im „Wirecard-Skandal“
Das Bundesverfassungsgericht hat einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die ein zivilgerichtliches Ausgangsverfahren betrifft, in dem das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL zur Unterlassung einer Wort- und Bildberichterstattung im Zusammenhang mit dem sogenannten „Wirecard-Skandal“ verurteilt worden ist.
Die mit der Verfassungsbeschwerde unter anderem angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten auf Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Grundgesetz (GG). Soweit es die Wortberichterstattung betrifft, hat das Oberlandesgericht teilweise die Anforderungen an die der Beschwerdeführerin obliegenden Sorgfaltspflichten überspannt und teilweise bereits eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügende Sinnermittlung des Kontexts der Berichterstattung vorgenommen. Dieser Begründungsmangel hat sich in der Beurteilung der Bildberichterstattung fortgesetzt.
Die Kammer hat die Entscheidung des Oberlandesgerichts aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an dieses zurückverwiesen.
Sachverhalt
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war nach den fachgerichtlichen Feststellungen zunächst im Wirecard-Konzern tätig. Er schied im Jahr 2018 aus dem Konzern aus und wurde Geschäftsführer eines Startup-Unternehmens. Dieses Unternehmen erhielt bis Ende März 2020 durch ein Unternehmen des Wirecard-Konzerns einen Kredit in Höhe von 115 Millionen Euro. Dessen deklarierter Zweck war ein sogenanntes Mercant Cash Advance (MCA-Geschäft), bei dem es sich um ein Zusatzprodukt zur eigentlichen Zahlungsabwicklung handelt, das höhere Margen verspricht. Der Insolvenzverwalter der Wirecard AG sowie die Staatsanwaltschaft nehmen an, dass über das Vehikel der MCA-Geschäfte hunderte Millionen Euro veruntreut worden seien. Die Staatsanwaltschaft leitete unter anderem gegen den Kläger im Zusammenhang mit dem „Wirecard-Skandal“ ein Ermittlungsverfahren ein.
Die Beschwerdeführerin veröffentlichte am 20./21. November 2020 und 5./6. Februar 2021 online sowie in der Printausgabe Artikel zum „Wirecard-Skandal“, in denen sie auch über den Kläger berichtete und die Artikel mit nicht verpixelten Bildern des Klägers versah. Der Kläger nahm die Beschwerdeführerin vor dem Landgericht auf Unterlassung der ihn im Zusammenhang mit Strafvorwürfen gegen seine Person identifizierenden Wort- und Bildberichterstattung in Anspruch. Das Landgericht gab der Klage statt. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beschwerdeführerin wies das Oberlandesgericht zurück. Es führte unter anderem aus, da in beiden Artikeln zumindest der Verdacht geäußert werde, der Kläger sei in strafrechtlich relevanter Weise an der Begehung der geschilderten Taten beteiligt gewesen, seien die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung entsprechend anwendbar. Deren Voraussetzungen seien allerdings nicht erfüllt.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG durch die gerichtlichen Entscheidungen.
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Wesentliche Erwägungen der Kammer
I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, soweit sie sich gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts richtet. Der Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführerin ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
1. Im Hinblick auf die Wortberichterstattung vom 20./21. November 2020 genügt die Würdigung des Oberlandesgerichts, dass die Verdachtsberichterstattung bereits deshalb unzulässig sei, weil es an einem hinreichenden Mindestbestand an Beweistatsachen fehle, nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
a) Grundlegenden Bedenken begegnet hierbei insbesondere die Vorgehensweise des Oberlandesgerichts, den erforderlichen Mindestbestand allein auf der Grundlage von Verdachtsstufen zu bestimmen. Die Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung kann nicht allein davon abhängig gemacht werden, dass ein bestimmter Grad an Wahrscheinlichkeit für die Begründetheit des Verdachts spricht. Dürfte die Presse eine Verdachtsberichterstattung immer nur dann veröffentlichen, wenn sie eine über den Anfangsverdacht hinausgehende Verurteilungswahrscheinlichkeit zu belegen vermag, wäre dies mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Das gilt namentlich für eine Verdachtsberichterstattung über komplexe, auf Verschleierung angelegte Straftaten aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität.
b) Zudem wird in der angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt, dass das Interesse der Öffentlichkeit am Gegenstand der Berichterstattung bereits bei Bemessung der Sorgfaltsanforderungen gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abwägend zu berücksichtigen ist und umso stärker ausfällt, je mehr sich die Straftat durch die Art der Begehung oder die Schwere der Folgen über die gewöhnliche Kriminalität heraushebt. Bei dem Verdacht allgemeinschädlicher Wirtschaftsstraftaten steht in besonderer Weise derjenige im Blickfeld der Öffentlichkeit, dessen (objektive) Nähe zu den in Frage stehenden Ereignissen sich gerade aus einer beruflich hervorgehobenen Position und der damit verbundenen wirtschaftlichen Verantwortung ergibt. Mit Blick hierauf hätte das Oberlandesgericht bei der Würdigung der Beweistatsachen in die Betrachtung einbeziehen müssen, dass an der Person des Klägers und seinen damaligen geschäftlichen Handlungen aufgrund seiner hervorgehobenen Position als Geschäftsführer eines Unternehmens, auf die sich der Verdacht einer Verstrickung in erhebliche Wirtschaftsstraftaten im Zusammenhang mit dem „Wirecard-Skandal“ erstreckt, ein besonderes öffentliches Informationsinteresse besteht.
2. Soweit es die Wortberichterstattung vom 5./6. Februar 2021 betrifft, hält bereits die in der angegriffenen Entscheidung erfolgte Sinnermittlung verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Der Artikel vom 5./6. Februar 2021 thematisiert die Rolle des Klägers allenfalls vage und ohne erkennbare Zuordnung zu konkreten Vorgängen. Das Oberlandesgericht hat gleichwohl eine Verdachtsäußerung angenommen und sich unter anderem darauf gestützt, dass der Kläger als eine der „Schlüsselpersonen des Skandals“ und Teil eines „Netzwerks treuer Helfer“ eines flüchtigen, ehemaligen Vorstandsmitglieds bezeichnet worden sei. Insoweit hat das Oberlandesgericht aber keine hinreichende Einordnung in den Kontext des Artikels vorgenommen.
b) Zudem hält die Würdigung des Oberlandesgerichts, bei den herangezogenen Formulierungen handele es sich jeweils um eine Tatsachenbehauptung, verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Formulierungen enthalten zwar faktische Elemente. Das Oberlandesgericht hat aber nicht berücksichtigt, dass der Artikel durch die verwendeten Formulierungen zu diesen Vorgängen Stellung bezieht und die Nähe des Klägers zu den fraglichen Ereignissen kritisch bewertet. Die vorgenannten Passagen stellen sich damit insgesamt als Werturteil dar. Als solches ist es von dem Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst. Ob die zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen zutreffen oder dieses zu tragen vermögen, ist nur für die dann erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht des Klägers von Bedeutung.
3. Das Oberlandesgericht hat auch in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise angenommen, dass die identifizierende Bildberichterstattung den Kläger in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletze. Zwar begegnet es im Ausgangspunkt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, aus der Unzulässigkeit einer Wortberichterstattung zu schließen, dass auch die diese flankierende Bildberichterstattung unzulässig ist. Ist ein Fachgericht – wie hier – aber bereits in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise von einer unzulässigen Verdachtsberichterstattung ausgegangen, so setzt sich dieser Begründungsfehler zwangsläufig in einer kongruent erfolgten Beurteilung der Bildberichterstattung fort. Zudem hat das Oberlandesgericht außer Acht gelassen, dass der Kläger, selbst wenn er nicht als prominent wahrgenommen werden mag, zum maßgeblichen Zeitpunkt eine herausgehobene berufliche Position mit erheblicher wirtschaftlicher Verantwortung innehatte.
II. Die Kammer hat den Beschluss des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 03.12.2025
Quelle: Bundesverfassungsgericht,