21.11.2024
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Dokument-Nr. 29589

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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.11.2020

Data-Mining gemäß Antiter­ror­da­tei­gesetz ist teilweise verfas­sungs­widrigBundes­ver­fas­sungs­gericht erklärt gemäß § 6 a Antiter­ror­da­tei­gesetz vorgesehene staatliche erweiterte Datennutzung für verfas­sungs­widrig

Das Antiter­ror­da­tei­gesetz (ATDG) ist hinsichtlich der erweiterten projekt­be­zogenen Datennutzung teilweise verfas­sungs­widrig. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden und § 6 a Absatz 2 Satz 1 ATDG für unvereinbar mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (GG) und damit nichtig erklärt.

Im Mittelpunkt des im Jahr 2006 in Kraft getretenen Antiter­ror­da­tei­ge­setzes (Gesetz zur Errichtung einer standa­r­di­sierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrich­ten­diensten von Bund und Ländern; Abkürzung: ATDG) stand die Schaffung einer gemeinsamen Verbunddatei der Sicher­heits­be­hörden, die in ihrem Kern der Infor­ma­ti­o­ns­an­bahnung diente. Nachdem der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts mit Urteil vom 24. April 2013 - 1 BvR 1215/07 - (BVerfGE 133, 277 ff. - Antiter­ror­da­tei­gesetz I) mehrere Vorschriften des Gesetzes für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hatte, änderte der Bundes­ge­setzgeber die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht beanstandeten Vorschriften und ergänzte das Antiter­ror­da­tei­gesetz um die Vorschrift des § 6 a ATDG ("Erweiterte projektbezogene Datennutzung").

Behörden sollten Daten aus Antiterrordatei auch für weitere Zwecke der operativen Aufga­ben­wahr­nehmung nutzen können

§ 6 a ATDG ermächtigt die Sicher­heits­be­hörden erstmalig zur so bezeichneten erweiterten Nutzung ("Data-mining") von in der Antiterrordatei gespeicherten Datenarten, und zwar ? über die Infor­ma­ti­o­ns­an­bahnung hinaus ? auch zur operativen Aufga­ben­wahr­nehmung. § 6 a ATDG gestattet damit die unmittelbare Nutzung der Antiterrordatei auch zur Generierung neuer Erkenntnisse aus den Querver­bin­dungen der gespeicherten Datensätze. Dies war bisher nur in Eilfällen möglich.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht verbietet erweiterte Nutzung der Daten aus Antiterrordatei

Die Regelung des § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG verletzt den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Sie genügt nicht den besonderen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen der hypothetischen Daten­neu­er­hebung ("infor­ma­ti­o­nelles Trennungs­prinzip"). Aufgrund der gesteigerten Belas­tungs­wirkung einer erweiterten Nutzung einer Verbunddatei der Polizeibehörden und Nachrich­ten­dienste muss diese dem Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern dienen und auf der Grundlage präzise bestimmter und normenklarer Regelungen an hinreichende Eingriffs­schwellen gebunden sein. Diesen Anforderungen genügt § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG nicht, während § 6 a ATDG im Übrigen diesen Erfordernissen entspricht.

Hintergrund: Was ist die Antiterrordatei?

Die Antiterrordatei ist eine der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dienende Verbunddatei von Polizeibehörden und Nachrich­ten­diensten des Bundes und der Länder. Im Regelfall erlaubt § 5 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a ATDG den berechtigten Behörden bei einer Abfrage zu Personen einen unmittelbaren Zugriff lediglich auf die in der Antiterrordatei zu ihrer Identifizierung gespeicherten Grunddaten wie Name, Geschlecht und Geburtsdatum (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a ATDG). Der Zugriff erstreckt sich ? außer in Eilfällen und insoweit nur unter engen Voraussetzungen ? nicht auch auf die in der Datei gespeicherten erweiterten Grunddaten (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b ATDG) wie Bankver­bin­dungen, Familienstand und Volks­zu­ge­hö­rigkeit.

Antiter­ror­da­tei­gesetz ist Rechtsgrundlage für die Datennutzung in Antiterrordatei

Der durch das Gesetz zur Änderung des Antiter­ror­da­tei­ge­setzes und anderer Gesetze (ATDGuaÄndG) vom 18. Dezember 2014 geschaffene § 6 a ATDG ist zum 1. Januar 2015 in Kraft getreten. Diese Vorschrift ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen eines "Projekts" die erweiterte Nutzung von in der Datei nach § 3 ATDG gespeicherten Datenarten. Nach § 4 ATDG verdeckt gespeicherte Daten sind davon ausgenommen. Die Absätze 1 bis 3 des § 6 a ATDG unterscheiden danach, ob die erweiterte Nutzung im Rahmen eines bestimmten einzel­fa­ll­be­zogenen Projekts zur Sammlung und Auswertung von Informationen über eine internationale terroristische Bestrebung (Abs. 1), für die Verfolgung qualifizierter Straftaten des internationalen Terrorismus (Abs. 2 Satz 1) oder für die Verhinderung von qualifizierten Straftaten (Abs. 3 Satz 1) erfolgt.

§ 6 a Antiter­ror­da­tei­gesetz ermöglicht Nutzung der Daten über ursprüngliche Zwecke hinaus

In § 6 a Abs. 5 ATDG definiert der Gesetzgeber den Begriff der erweiterten Nutzung. Hierunter ist das Herstellen von Zusammenhängen zwischen Personen, Perso­nen­grup­pie­rungen, Institutionen, Objekten und Sachen, der Ausschluss unbedeutender Informationen und Erkenntnisse, die Zuordnung eingehender Informationen zu bekannten Sachverhalten sowie die statistische Auswertung der gespeicherten Daten zu verstehen (Satz 1). Hierzu dürfen die beteiligten Behörden des Bundes Daten auch mittels phonetischer oder unvollständiger Daten, der Suche über eine Mehrzahl von Datenfeldern, der Verknüpfung von Personen, Institutionen, Organisationen, Sachen oder der zeitlichen Eingrenzung der Suchkriterien aus der Datei abfragen sowie räumliche und sonstige Beziehungen zwischen Personen und Zusammenhänge zwischen Personen, Perso­nen­grup­pie­rungen, Institutionen, Objekten und Sachen darstellen sowie die Suchkriterien gewichten (Satz 2). § 6 a ATDG gestattet damit die unmittelbare Nutzung der Antiterrordatei auch zur Generierung neuer Erkenntnisse aus den Querver­bin­dungen der gespeicherten Datensätze (sogenanntes "Data-mining").

Der Beschwer­de­führer rügt mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde, die sich ausschließlich gegen § 6 a ATDG richtet, eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbst­be­stimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).

Bundes­ver­fas­sungs­gericht gibt Beschwer­de­führer wegen Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbst­be­stimmung teilweise Recht

Die zulässige Verfas­sungs­be­schwerde ist teilweise begründet. § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG verstößt gegen das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Im Übrigen ist die Verfas­sungs­be­schwerde unbegründet. § 6 a Abs. 1 bis 3 ATDG greift in das Recht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ein, indem er den beteiligten Behörden eine erweiterte Datennutzung der in der Datei nach § 3 ATDG gespeicherten Datenarten mit Ausnahme der nach § 4 ATDG verdeckt gespeicherten Daten erlaubt.

§ 6 a Absatz 2 Satz 1 ATDG ist unver­hält­nismäßig

Der Eingriff durch § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG ist nicht gerechtfertigt. Die Regelung ist unver­hält­nismäßig. 1. Regelungen, die den Datenaustausch zwischen Polizeibehörden und Nachrich­ten­diensten ermöglichen, müssen den besonderen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen der hypothetischen Daten­neu­er­hebung genügen ("infor­ma­ti­o­nelles Trennungs­prinzip"). Welche Anforderungen an die Ausgestaltung einer Befugnis hinsichtlich Rechts­gü­ter­schutz und Eingriffs­schwelle im Einzelnen zu stellen sind, richtet sich nach der konkreten Belas­tungs­wirkung. 2. Der erweiterten Datennutzung nach § 6 a ATDG kommt eine gesteigerte Belas­tungs­wirkung zu. Vor diesem Hintergrund muss die Erzeugung neuer Erkenntnisse und Zusammenhänge durch Verknüpfung von in einer Datei gespeicherten Daten aus verschiedenen nachrich­ten­dienst­lichen und polizeilichen Quellen einem herausragenden öffentlichen Interesse dienen. Der Eingriff muss zudem an hinreichend konkretisierte Eingriffs­schwellen für die erweiterte Nutzung zu Zwecken der Gefahrenabwehr, Strafverfolgung sowie der Aufga­be­n­er­füllung von nicht operativ tätig werdenden Behörden wie den Nachrich­ten­diensten auf der Grundlage normenklarer Regelungen gebunden sein.

§ 6 a Absatz 2 Satz 1 ATDG ist keine hinreichend qualifizierte Eingriffs­schwelle

a) Für die erweiterte Nutzung der Antiterrordatei zum Zwecke der Gefahrenabwehr muss wegen der Belas­tungs­wirkung eine wenigstens hinreichend konkretisierte Gefahr in dem Sinne gegeben sein, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr vorliegen. b) Für die erweiterte Nutzung zur Infor­ma­ti­o­ns­aus­wertung muss diese zur Aufklärung einer bestimmten, nachrich­ten­dienstlich beobach­tungs­be­dürftigen Aktion oder Gruppierung im Einzelfall geboten sein; damit wird ein wenigstens der Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen vorausgesetzt. c) Für die erweiterte Nutzung zur Verfolgung einer Straftat muss ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegen, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind. 3. Diesen Anforderungen wird § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG nicht gerecht. Zwar lässt die Vorschrift die erweiterte Nutzung nur zum Schutz von Rechtsgütern zu, die besonders gewichtig sind. Der Befugnis nach § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG fehlt jedoch eine hinreichend qualifizierte Eingriffs­schwelle. § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG lässt die "Erfor­der­lichkeit im Einzelfall" zur Aufklärung "weitere[r] Zusammenhänge des Einzelfalls" genügen. § 6 a Abs. 2 ATDG bestimmt nicht normenklar, dass für die erweiterte Nutzung zum Zwecke der Strafverfolgung als Tatsachenbasis ein vom straf­pro­zes­sualen Anfangsverdacht verschiedener verdichteter Tatverdacht erforderlich ist. Auch die Bindung an ein Projekt im Sinne des § 6 a Abs. 4 ATDG ändert nichts an der verfas­sungs­recht­lichen Unzuläng­lichkeit der in § 6 a Abs. 2 Satz 1 ATDG genannten Eingriffs­vor­aus­set­zungen, weil auch in Absatz 4 keine hinreichende Eingriffs­schwelle normiert wird.

Übrige Regelungen des ATDG halten grund­ge­setz­licher Prüfung stand

4. Dagegen erweisen sich § 6 a Abs. 1 und 3 ATDG als verfas­sungsgemäß. Den Bestimmungen sind im Wege der Auslegung hinreichend normenklar geregelte Eingriffs­schwellen zu entnehmen, welche den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügen. § 6 a Abs. 3 Satz 1 ATDG darf allerdings nicht so verstanden werden, als erlaubte die Bestimmung die erweiterte Nutzung für eine bloße Vor- oder Umfel­der­mittlung ohne Bezug zu einer zumindest konkretisierten Gefahr. Bei einer solchen Lesart wäre § 6 a Abs. 3 Satz 1 ATDG verfas­sungs­widrig. 5. Auch die in § 6 a Abs. 7 und 8 ATDG normierten Anforderungen an individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle sind mit dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz vereinbar.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/we)

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