18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.11.2009

BVerfG zu Schmer­zens­geld­zah­lungen bei rechtswidrigem FreiheitsentzugFestnahme von Beobachtern einer Demonstration verstößt gegen Grundrechte

Beobachtet jemand von der Ferne Demonstrationen und wird dabei von der Polizei unzuläs­si­gerweise für mehrere Stunden in Gewahrsam genommen, stellt dies einen rechtswidrigen Freiheitsentzug dar. Eine dagegen gerichtete Verfas­sungs­be­schwerde ist somit zulässig. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Die Beschwer­de­führer hielten sich im November 2001 im Wendland auf, weil sie die Demonstrationen anlässlich eines Castor­transports in das Zwischenlager Gorleben beobachten wollten. Für einen Korridor von 50 Metern beiderseits der Bahnstrecke war ein Demon­s­tra­ti­o­ns­verbot verhängt. Die Beschwer­de­führer saßen an diesem Tag in einer Entfernung von ca. 3 km von den Bahnschienen in ihrem Auto, wo sie von Polizeibeamten angetroffen wurden. Die Polizeibeamten nahmen beide Beschwer­de­führer zusammen mit ca. 70 anderen Bürgern in Gewahrsam, aus dem die Beschwer­de­führer erst mehrere Stunden später entlassen wurden. Das Amtsgericht Uelzen stellte auf Antrag der Beschwer­de­führer im März 2007 die Rechts­wid­rigkeit der Freiheits­ent­ziehung fest. Mit einer bereits im Juli 2004 erhobenen Amtshaf­tungsklage gegen das Land Niedersachsen und die Bundesrepublik Deutschland beim Landgericht in Lüneburg begehrten sie zudem unter anderem die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Geldent­schä­digung wegen der erlittenen rechtswidrigen Freiheits­ent­ziehung. Die Klage und die Berufung blieben erfolglos. Die Beschwer­de­führer rügen, dass die angegriffenen Entscheidungen über ihre Amtshaf­tungsklage Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 sowie Art. 1 Abs. 1, auch in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG grundlegend verkannt hätten, auch indem sie die herab­wür­di­genden Umstände der Ingewahr­samnahme nicht berücksichtigt hätten.

BVerfG: Voraussetzungen für Freiheitsentzug war nicht gegeben

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hob die Urteile des Landgerichts Lüneburg und des Oberlan­des­ge­richts Celle auf und wies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Sie verletzen die Beschwer­de­führer in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, weil sie bei der Versagung eines Amtshaf­tungs­an­spruchs nicht berücksichtigt haben, dass schon die Voraussetzungen für die freiheits­ent­ziehende Maßnahme selbst nicht gegeben waren. Außerdem haben die Gerichte die Umstände des Gewahr­sam­vollzugs bei der Versagung des Schmer­zens­geldes in verfas­sungs­rechtlich nicht mehr tragfähiger Weise außer Acht gelassen.

Geldent­schä­digung kann nur bei hinreichender Schwere und Fehlens anderweitiger Genug­tu­ungs­mög­lichkeit beansprucht werden

Ein zivil­recht­licher Schaden­s­er­satz­an­spruch wegen der Verletzung immaterieller Grund­rechts­po­si­tionen muss nicht zwingend in der Zubilligung eines Zahlungs­an­spruchs bestehen. Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts der Schutzauftrag des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens gebietet, weil anderenfalls ein Verkümmern des Rechtsschutzes der Persönlichkeit zu befürchten wäre. Es begegnet daher keinen grundsätzlichen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken, dass eine Geldent­schä­digung wegen der Verletzung immaterieller Persön­lich­keits­be­standteile nach der zivil­ge­richt­lichen Rechtsprechung nur unter der Voraussetzung einer hinreichenden Schwere und des Fehlens einer anderweitigen Genug­tu­ungs­mög­lichkeit beansprucht werden kann.

Gerichte berücksichtigen Verletzung des Grundrechts der Beschwer­de­führer nicht ausreichend

Die Gerichte haben ihre Auffassung, dass die von den Beschwer­de­führern erlittene Rechtseinbuße durch die vom Amtsgericht festgestellte Rechts­wid­rigkeit des Gewahrsams hinreichend ausgeglichen sei, allein auf eine Würdigung der Umstände der Durchführung des Gewahrsams gestützt. Demgegenüber wird die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch die rechtswidrige Freiheits­ent­ziehung selbst, unabhängig von den Bedingungen ihres Vollzuges, in den angegriffenen Entscheidungen zwar erwähnt, aber nicht sachhaltig gewichtend in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles einbezogen. Sie gibt dem vorliegenden Fall aber gerade sein wesentliches Gepräge und unterscheidet ihn von den durch die Gerichte zitierten höchst­rich­ter­lichen Entscheidungen, in denen es allein um die Bedingungen beim Vollzug einer an sich gerecht­fer­tigten Freiheits­ent­ziehung ging.

Rechtliche Würdigung der Umstände des Gewahr­sams­vollzugs genügen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht

Darüber hinaus genügen auch die Erwägungen der Gerichte zur rechtlichen Würdigung der Umstände des Gewahr­sams­vollzugs ihrerseits nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. So ist insbesondere zu beanstanden, dass das Oberlan­des­gericht in der mindestens zehnstündigen Festsetzung der Beschwer­de­führer keine nachhaltige Beein­träch­tigung gesehen hat, ohne die abschreckende Wirkung zu erwägen, die einer derartigen Behandlung für den künftigen Gebrauch grundrechtlich garantierter Freiheiten — namentlich die durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Teilnahme an Demonstrationen oder deren von Art. 2 Abs. 1 GG umfasste Beobachtung — zukommen konnte und die der Rechts­be­ein­träch­tigung ein besonderes Gewicht verleihen kann.

Quelle: ra-online, BVerfG

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