18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.02.2010

BVerfG: Anwohner des Flughafens Berlin-Schönefeld haben Anspruch auf höhere EntschädigungEntschä­di­gungs­re­ge­lungen des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts verstoßen gegen Eigen­tums­grund­rechte

Die Entscheidung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts über Entschä­di­gungs­re­gelung für fluglärm­be­dingte Übernahmen von Grundstücken beim Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld verletzen die Eigen­tums­ga­rantie aus Art. 14 GG. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Die Verfas­sungs­be­schwerde betrifft Gericht­s­ent­schei­dungen, die die im Planfest­stel­lungs­be­schluss für den Ausbau des Verkehrs­flug­hafens Berlin-Schönefeld festgesetzte Entschädigung bei der fluglärm­be­dingten Übernahme eines Grundstücks zum Gegenstand haben. Die Beschwer­de­führer bewohnen ein in ihrem Eigentum stehendes Hausgrundstück auf der Gemarkung von M., das unmittelbar am Flugha­fe­numgriff und im Zentrum der Einflugschneise der neuen Startbahn Süd des geplanten Flughafens liegt. Wegen der prognos­ti­zierten starken Lärmbelastung haben sie nach den Entschä­di­gungs­re­ge­lungen des Planfest­stel­lungs­be­schlusses Anspruch auf Übernahme des Grundstücks durch den Vorhabenträger zum Verkehrswert. Der Verkehrswert ist nach diesen Regelungen zum Stichtag der Geltendmachung des Anspruchs zu ermitteln. Die von den Beschwer­de­führern erhobene Klage wurde vom Bundes­ver­wal­tungs­gericht - nach Abschluss von Musterverfahren durch Urteile vom 16. März 2006 - ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss vom 2. Juli 2008 abgewiesen. Gegen diesen Beschluss sowie einen nachfolgenden Anhörungs­rü­gen­be­schluss vom 19. August 2008 erhoben die Beschwer­de­führer Verfas­sungs­be­schwerde. Sie rügen die Verletzung der Eigen­tums­ga­rantie aus Art. 14 GG sowie des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Eigen­tums­ga­rantie verlange, dass die Höhe der Entschädigung ihres Grundstücks entgegen der Stich­tags­re­gelung des Planfest­stel­lungs­be­schlusses nach dem Verkehrswert ihres Grundstücks zu einem Zeitpunkt vor Erlass des Planfest­stel­lungs­be­schlusses am 13. August 2004 zu bemessen sei. Die bereits zu diesem Zeitpunkt eingetretene erhebliche Wertminderung, die ursächlich auf den geplanten Flughafenausbau zurückzuführen sei, müsse berücksichtigt werden. Anders als in den mit Urteilen vom 16. März 2006 entschiedenen Musterfällen habe sich der Verkehrswert ihres Grundstücks zwischen 1996 und 2004 nicht nur um 20 %, sondern um 50 bis 60 % gemindert.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht weist Sache an das Bundes­ver­wal­tungs­gericht zurück

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat den Beschluss des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 2. Juli 2008 aufgehoben und die Sache an das Bundes­ver­wal­tungs­gericht zurückverwiesen. Der Beschluss verletzt die Beschwer­de­führer in ihrem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG kann dagegen nicht festgestellt werden. Den Beschluss des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 19. August 2008 über die Anhörungsrüge hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht für gegenstandslos erklärt.

Interessen der Beschwer­de­führer und Gemein­wohl­in­teressen vom BVerwG fehlerhaft gewichtet

Der Beschluss des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts vom 2. Juli 2008 verletzt das in Art. 14 Abs. 1 GG verankerte Verhält­nis­mä­ßig­keits­prinzip, weil er die Interessen der Beschwer­de­führer und die Gemein­wohl­in­teressen fehlerhaft gewichtet und daher in keinen angemessenen Ausgleich gebracht hat. Zwar schützt Art. 14 Abs. 1 GG das Grundeigentum der Anwohner des geplanten Flughafens nicht vor jedem Wertverlust durch Planungen. Eine Minderung der Wirtschaft­lichkeit ist grundsätzlich ebenso hinzunehmen wie eine Verschlech­terung der Verwer­tungs­aus­sichten. Jedoch übersieht der angegriffene Beschluss, dass der Eigen­tums­ga­rantie bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken besonderes Gewicht zukommt, soweit das Eigentum die persönliche Freiheit des Einzelnen im vermö­gens­recht­lichen Bereich sichert. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Grundstück den wesentlichen Teil des Vermögens des Pflichtigen bildet und die Grundlage seiner privaten Lebensführung einschließlich seiner Familie darstellt. In solchen Fällen tritt die Aufgabe der Eigen­tums­ga­rantie, dem Träger des Grundrechts einen Freiraum im vermö­gens­recht­lichen Bereich zu sichern und ihm damit eine eigen­ver­ant­wortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen, in den Vordergrund.

Eigentümern bleibt aufgrund der Unzumutbarkeit der Lärmbelastung nur Aufgabe des Eigentums und Beschaffung einer Ersatzwohnung übrig

Demgegenüber müssen die ebenfalls von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Interessen der Vorhabenträger an der Nutzung des Flughafens zurücktreten, wenn die Betroffenen aufgrund der Festlegung des Stichtags für die zu zahlende Entschädigung nicht mehr in der Lage sind, sich ein adäquates Wohngrundstück für sich und ihre Familie leisten zu können. Dabei mag zwar - je nach den Umständen des Einzelfalls - ein gewisser Grund­s­tücks­wert­verlust aufgrund des geplanten Flughafens als Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums hinzunehmen sein. Die Beschwer­de­führer machen hier jedoch eine Verkehrs­wert­min­derung im Ausmaß von 50 bis 60 % geltend. Von diesem Ausmaß der Verkehrs­wert­min­derung ist im vorliegenden Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren auszugehen, weil sie so vom Bundes­ver­wal­tungs­gericht, das diesbezüglich auf eine Beweisaufnahme verzichtet hat, im angegriffenen Beschluss unterstellt worden ist. Eine solche Verkehrs­wert­min­derung würde hier die wegen der Sozialbindung der Eigen­tums­ga­rantie hinzunehmende Verkehrs­wert­min­derung übersteigen. Den Eigentümern von Grundstücken, die mit einem Anspruch auf Übernahme des Grundstücks zum Verkehrswert entschädigt werden sollen, bleibt nämlich aufgrund der Unzumutbarkeit der Lärmbelastung faktisch gar nichts anderes übrig, als ihr Eigentum aufzugeben und sich eine Ersatzwohnung zu beschaffen. Dieser Zwang zur Ersatz­be­schaffung wird nicht dadurch genommen, dass das Hausgrundstück möglicherweise zu anderen als zu Wohnzwecken noch genutzt werden könnte.

Ob der verhält­nis­mäßige Ausgleich zwischen dem Eigen­tums­grundrecht der Beschwer­de­führer und dem allgemeinen Wohl dadurch hergestellt wird, dass - wie die Beschwer­de­führer fordern - die Grundsätze der enteig­nungs­recht­lichen Vorwirkungen zumindest im vorliegenden Fall auf den Übernah­mean­spruch angewendet werden oder der erforderliche Inter­es­se­n­aus­gleich auf andere Weise gewährleistet wird, kann vorliegend offen bleiben. Bei der Anwendung der Grundsätze der enteig­nungs­recht­lichen Vorwirkung bliebe der Anspruch ein Kompen­sa­ti­o­ns­an­spruch für eine Inhalts- und Schran­ken­be­stimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Daher könnte auch in diesem Fall in Übereinstimmung mit Art. 14 Abs. 1 GG die aufgrund der Sozialbindung zumutbare Belastung aufgrund einer entsprechenden Regelung im Planfest­stel­lungs­be­schluss in Abzug gebracht werden.

Keine Verletzung des Grundrechts auf Anspruch auf rechtliches Gehör

Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG konnte das Bundes­ver­fas­sungs­gericht dagegen nicht feststellen. Dies gilt zunächst soweit die Beschwer­de­führer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG damit begründen, dass das Bundes­ver­wal­tungs­gericht nach § 93 a Abs. 2 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. Denn die Beschwer­de­führer haben nicht hinreichend dargetan, dass die angegriffene Entscheidung auf dem behaupteten Gehörsverstoß beruht. Sie haben nicht aufgezeigt, was sie im Rahmen einer mündlichen Verhandlung weiter vorgetragen oder welchen zusätzlichen, bislang nicht angebrachten Beweisantrag sie gestellt hätten.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird ferner nicht dadurch verletzt, dass das Bundes­ver­wal­tungs­gericht den Beweisantrag der Beschwer­de­führer, zu ihrer Behauptung einer 50 prozentigen Minderung des Verkehrswertes des streit­be­fangenen Grundstücks zwischen 1996 und 2004 Beweis durch Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens zu erheben, abgelehnt hat. Nach der vorliegend zwar gemäß Art. 14 Abs. 1 GG zu beanstandenden, im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG jedoch maßgeblichen materi­ell­recht­lichen Auffassung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts war dieser Beweisantrag nicht erheblich. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt keinen Schutz dagegen, dass Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberück­sichtigt bleibt.

Quelle: ra-online, BVerfG

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