23.11.2024
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Dokument-Nr. 31420

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Bundesverfassungsgericht Beschluss01.12.2021

Verstoß gegen prozessuale Waffen­gleichheit bei Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne vorangegangene AnhörungGerichte müssen auch Verfah­rens­gegner in einstweiligen Verfü­gungs­ver­fahren grundsätzlich anhören

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass das Hanseatische Oberlan­des­gericht die Beschwer­de­führerin in ihrem grund­rechts­gleichem Recht auf prozessuale Waffen­gleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz verletzt hat, indem es ohne vorherige Anhörung eine einstweilige Anordnung erlassen hat.

Die Beschwer­de­führerin veröffentlichte auf einer von ihr verantworteten Inter­net­plattform ein Interview, in dem unter anderem die Antragstellerin des Ausgangs­ver­fahrens erwähnt wurde. Wegen dieser Berich­t­er­stattung mahnte die Antragstellerin die Beschwer­de­führerin mit anwaltlichem Schreiben zunächst erfolglos ab. Die Antragstellerin stellte deshalb beim Landgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung. Der begehrte Unter­las­sungstenor entsprach der zuvor außer­ge­richtlich geforderten Unter­las­sungs­er­klärung. Nachdem das Gericht dem Bevoll­mäch­tigten der Antragstellerin mitteilte, dass die Anträge nach vorläufiger Beratung keine Aussicht auf Erfolg hätten, formulierte die Antragstellerin ihren ursprünglich gestellten Antrag um und ergänzte zwei Hilfsanträge. Das Landgericht wies den Antrag auch in seiner nachgebesserten Form durch Beschluss zurück. Im Verfahren der sofortigen Beschwerde wies der Berich­t­er­statter des zuständigen Senats des Oberlan­des­ge­richts den Bevoll­mäch­tigten der Antragstellerin darauf hin, dass man nur einem bestimmten Antrag stattgeben werde. Die Antragstellerin nahm die übrigen Anträge daraufhin zurück. Das Oberlan­des­gericht erließ anschließend eine einstweilige Unter­las­sungs­ver­fügung „der Dringlichkeit wegen ohne mündliche Verhandlung“ gegen die Beschwer­de­führerin. Die Beschwer­de­führerin wurde zuvor nicht angehört. Die Beschwer­de­führerin rügt mit der Verfas­sungs­be­schwerde eine Verletzung der prozessualen Waffen­gleichheit.

Verzicht auf Anhörung nur im Ausnahmefall möglich

Der Beschluss des Oberlan­des­ge­richts verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem grund­rechts­gleichen Recht auf prozessuale Waffen­gleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die prozessuale Waffen­gleichheit steht im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffen­gleichheit ist. Als prozessuales Urrecht gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfü­gungs­antrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.

Vorprozessuale Äußerungs­mög­lich­keiten auf Abmahnung kann bei Kongruent ausreichend sein

Dabei ist von Verfassung wegen nichts dagegen einzuwenden, wenn das Gericht in solchen Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfü­gungs­antrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Insoweit kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfü­gungs­ver­fahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfas­sungs­recht­lichen Grundsatz der prozessualen Waffen­gleichheit genügen die Erwide­rungs­mög­lich­keiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn der Verfü­gungs­antrag in Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unter­las­sungs­er­klärung bei Gericht eingereicht wird, die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung mit dem bei Gericht geltend gemachten Unter­las­sungs­be­gehren identisch sind und der Antragsteller ein etwaiges Zurück­wei­sungs­schreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht eingereicht hat. Demgegenüber ist dem Antragsteller Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird. Gehör ist insbesondere auch zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt.

Recht der Beschwer­de­führerin auf prozessuale Waffen­gleichheit verletzt

Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwer­de­führerin offenkundig in ihrem grund­rechts­gleichen Recht auf prozessuale Waffen­gleichheit. Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung der Beschwer­de­führerin war vorliegend keine Gleich­wer­tigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber dem Verfah­rens­gegner gewährleistet. Zwar hatte die Antragstellerin die Beschwer­de­führerin vorprozessual abgemahnt. Der Verfü­gungs­antrag, dem der Pressesenat stattgab, entsprach jedoch nicht mehr der außer­pro­zes­sualen Abmahnung. Er war wesentlich verändert worden. Hier waren mehrere gerichtliche Hinweise an die Antragstellerin ergangen, infolge derer sie ihre Anträge umgestellt, ergänzt und teilweise zurückgenommen hatte. Während die Antragstellerin somit mehrfach und flexibel nachsteuern konnte, um ein für sie positives Ergebnis des Verfahrens zu erreichen, hatte die Beschwer­de­führerin keinerlei Möglichkeit, auf die veränderte Sach- und Streitlage zu reagieren. Sie wusste bis zur Zustellung der Entscheidung des Pressesenats nicht, dass gegen sie ein Verfahren geführt wurde. Dies verletzt die prozessuale Waffen­gleichheit. Spätestens das Oberlan­des­gericht hätte die Beschwer­de­führerin vor dem Erlass seines Beschlusses über die zuvor an die Antragstellerin ergangenen Hinweise in Kenntnis setzen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme zu den veränderten Anträgen geben müssen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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