23.11.2024
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Dokument-Nr. 29207

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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.09.2020

Verfassungs­beschwerde gegen das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassen­verfahren im Baugewerbe erfolglosGesetzgeber durfte Sozialkassen­verfahren im Baugewerbe rückwirkend reparieren

Das Bundes­verfassungs­gerichts hat mehrere Verfassungs­beschwerden gegen das Gesetz zur Sicherung der Sozialkassen­verfahren im Baugewerbe (SokaSiG) nicht zur Entscheidung angenommen. Der Gesetzgeber hat damit nicht das Rückwir­kungs­verbot verletzt, da die betroffenen Unternehmen nicht darauf vertrauen konnten, keine Beiträge zu den Sozialkassen leisten zu müssen.

Mit dem Gesetz zur Sicherung der Sozia­l­kas­sen­ver­fahren im Baugewerbe (SokaSiG) stellte der Gesetzgeber rückwirkend die Rechtslage wieder her, die bis zu Entscheidungen des Bundes­a­r­beits­ge­richts zur Allge­mein­ver­bind­lichkeit der zugrun­de­lie­genden Tarifverträge galt. Die Tarifverträge zu Berufsbildung, Alters­ver­sorgung sowie Urlaub zwischen den Arbeit­ge­ber­ver­bänden Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Indus­trie­ge­werk­schaft Bauen-Agrar-Umwelt - IG BAU - sehen speziell für die Baubranche zusätzliche Leistungen für die Beschäftigten vor. Sie werden von den Sozialkassen des Baugewerbes erbracht, die durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber finanziert werden. Der maßgebliche Tarifvertrag VTV wurde in der Vergangenheit regelmäßig gemäß § 5 des Tarif­ver­trags­ge­setzes vom Bundes­mi­nis­terium für Arbeit und Soziales für allge­mein­ver­bindlich erklärt. Damit sollte er nicht nur für Angehörige der tarif­schlie­ßenden Verbände, sondern für alle, die in den Geltungsbereich der Tarifverträge fallen, gelten. Deshalb leisteten jahrelang auch nicht verband­s­an­ge­hörige Unternehmen als sogenannte „Außenseiter“ Beiträge zu den Sozialkassen.

BAG erklärte Allge­mein­ver­bind­li­ch­er­klä­rungen für unwirksam

2016 und 2017 erklärte das Bundes­a­r­beits­gericht die Allge­mein­ver­bind­li­ch­er­klä­rungen des VTV aus den Jahren 2008, 2010, 2012, 2013 und 2014 für unwirksam. Die dagegen gerichteten Verfas­sungs­be­schwerden hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht mit Beschlüssen vom 10. Januar 2020 nicht zur Entscheidung angenommen (1 BvR 4/17, 1 BvR 593/17, 1 BvR 1104/17, 1 BvR 1459/17). Im Anschluss an die Entscheidungen des Bundes­a­r­beits­ge­richts stellten sich zahlreiche nicht verband­s­an­ge­hörige Unternehmen auf den Standpunkt, für die betroffenen Zeiträume habe keine Verpflichtung zur Leistung von Sozia­l­kas­sen­bei­trägen bestanden.

Gesetzgeber stellt rückwirkend geltenden Rechtslage wieder her

Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem hier angegriffenen Gesetz. Er wollte eine Rechtsgrundlage dafür schaffen, noch ausstehende Sozia­l­kas­sen­beiträge einzuziehen und bereits erhaltene Beiträge nicht zurückzahlen zu müssen. Das Gesetz trat am 25. Mai 2017 in Kraft und ordnet für Zeiträume ab 2006 die Sozia­l­kas­sen­ta­rif­verträge nun kraft Gesetzes verbindlich an. In Bezug genommen sind sämtliche Bestimmungen des Tarifvertrags über das Sozia­l­kas­sen­ver­fahren im Baugewerbe einschließlich der Beitragspflicht.

Unternehmen rügten unzulässige echte Rückwirkung

Die Verfas­sungs­be­schwerden machen dagegen geltend, dass die Regelungen des SokaSiG die Grundrechte auf unter­neh­me­rische Freiheit aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts­s­taats­prinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, die Koali­ti­o­ns­freiheit sowie das Recht auf Gleich­be­handlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten. Das Gesetz entfalte eine verfas­sungs­rechtlich unzulässige echte Rückwirkung. Ein anerkannter Ausnahmefall, in dem das zu rechtfertigen wäre, liege nicht vor.

BVerfG: Kein Verstoß gegen das verfas­sungs­rechtliche Rückwir­kungs­verbot

Das BVerfG hat die Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Das Gesetz zur Sicherung der Sozia­l­kas­sen­ver­fahren im Baugewerbe verstößt nicht gegen das verfas­sungs­rechtliche Rückwir­kungs­verbot. Nach den hier in Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG mit Blick auf die unter­neh­me­rische Freiheit in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechts­si­cherheit und des Vertrau­ens­schutzes sind der Rückwirkung von Gesetzen verfas­sungs­rechtlich Grenzen gesetzt. Normen mit echter Rückwirkung sind verfas­sungs­rechtlich grundsätzlich unzulässig. Das Sozia­l­kas­sen­si­che­rungs­gesetz ordnet eine solche echte Rückwirkung an, weil es Arbeitgeber, die nicht kraft Verbands­mit­glied­schaft tarifgebunden sind, mit Beitrags­pflichten für zurückliegende Zeiträume belastet.

Rückwirkung ausnahmsweise verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt

Diese Rückwirkung ist aber ausnahmsweise verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt. Den Allge­mein­ver­bind­li­ch­er­klä­rungen, die das Gesetz ersetzt, kam vor den Entscheidungen des Bundes­a­r­beits­ge­richts der Rechtsschein der Wirksamkeit zu. Dieser wirkt nicht nur zugunsten derjenigen, die eine Norm bindet, sondern hier auch zu ihren Lasten. Auch eine ungewisse, sich später als richtig herausstellende Ansicht, eine Norm sei ungültig, entbindet nicht davon, zu berücksichtigen, dass die angewandte Norm weiterhin gültig sein kann. Daher konnten die Betroffenen nicht darauf vertrauen, dass die Allge­mein­ver­bind­li­ch­er­klä­rungen unwirksam sind und sie keine Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes leisten müssten.

Rückwirkende Repara­tur­ge­setz­gebung verhältnismäßig

Der Gesetzgeber konnte folglich rückwirkend eine „Repara­tur­ge­setz­gebung“ in Kraft setzen, deren Belastungen dem entsprechen, was nach Maßgabe des korrigierten Rechts ohnehin als geltend unterstellt werden musste. Den Grund­rechts­be­rech­tigten wird damit durch die Rückwirkung nichts zugemutet, womit sie nicht ohnehin schon zu rechnen hatten. Insoweit haben die Verfas­sungs­be­schwerden nicht aufgezeigt, dass mit dem angegriffenen Gesetz neue und eigenständige Belastungen einhergingen. Das Gesetz verstößt auch nicht gegen das Prinzip der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Insbesondere bestehen keine verfas­sungs­rechtlich durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber von der Erfor­der­lichkeit und Zumutbarkeit des Sozia­l­kas­sen­si­che­rungs­ge­setzes ausgegangen ist. Ihm kommt dazu ein weiter Einschätzungs- und Progno­se­spielraum zu, der hier nicht überschritten wurde.

BVerfG verneint Verletzung der Koali­ti­o­ns­freiheit und des Gleich­heits­satzes

Auch soweit die Beschwer­de­füh­renden die Koali­ti­o­ns­freiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) sowie ihr Recht auf Gleich­be­handlung aus Art. 3 Abs. 1 GG als verletzt ansehen, hatten die Rügen keinen Erfolg. Die Geltung des Gesetzes nur für die Baubranche erklärt sich schon daraus, dass nur die Allge­mein­ver­bind­lichkeit dieser tarif­ver­trag­lichen Regelungen für unwirksam erklärt worden war. Zwischen­zeitlich hat der Gesetzgeber die Allge­mein­ver­bind­lichkeit im Übrigen auch für die anderen Branchen mit dem Gesetz zur Sicherung der tarif­ver­trag­lichen Sozia­l­kas­sen­ver­fahren vom 1. September 2017 („SokaSiG II") geregelt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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