21.11.2024
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Dokument-Nr. 8772

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Bundesverfassungsgericht Beschluss06.07.2004

BVerfG: Anspruch auf Erziehungsgeld für Ausländer mit Aufent­halts­be­fugnisNichtgewährung von Erziehungsgeld an Ausländer, die nur über eine Aufent­halts­be­fugnis verfügten, war verfas­sungs­widrig

Es ist mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar, Ausländer mit Aufent­halts­be­fugnis generell von der Gewährung von Erziehungsgeld auszuschließen. Der Gesetzgeber kann jedoch die Gewährung von Erziehungsgeld davon abhängig machen, dass der zur Betreuung eines Kindes bereite Elternteil an der Aufnahme oder Fortsetzung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit rechtlich nicht gehindert ist. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Die Verfas­sungs­be­schwerde (Vb) einer in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgerin, die sich im sozial­ge­richt­lichen Verfahren gegen die Ablehnung der Gewährung von Erziehungsgeld gewandt hatte, war erfolgreich. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass § 1 Abs. 1 a Satz 1 Bundes­er­zie­hungs­geld­gesetz in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konso­li­die­rungs­pro­gramms vom 23. Juni 1993 (BErzGG 1993) mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Es verstößt gegen den Gleichheitssatz, Ausländer mit Aufent­halts­be­fugnis generell von der Gewährung von Erziehungsgeld auszuschließen. Im Rahmen einer Neuregelung kann der Gesetzgeber jedoch die Gewährung des Erzie­hungs­geldes an den Nachweis der Berechtigung zur Aufnahme oder Fortführung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit knüpfen. Ersetzt der Gesetzgeber die verfas­sungs­widrige Regelung nicht bis zum 1. Januar 2006, ist auf noch nicht abgeschlossene Verfahren das bis zum 26. Juni 1993 geltende Recht anzuwenden.

Im Hinblick auf die vorliegende Entscheidung hat der Gesetzgeber auch die Nachfol­ge­re­ge­lungen von § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 auf ihre Verfas­sungs­mä­ßigkeit hin zu überprüfen.

Rechtlicher Hintergrund:

Das Erziehungsgeld wurde durch das Bundes­er­zie­hungs­geld­gesetz vom 6. Dezember 1985 eingeführt. Durch die Gewährung von Erziehungsgeld soll Eltern die Möglichkeit gegeben werden, ganz oder teilweise auf eine Erwer­b­s­tä­tigkeit zu verzichten und sich der Erziehung ihrer Kinder in der ersten Lebensphase verstärkt zu widmen. In dem hier maßgeblichen Zeitraum (1993 bis 1995) betrug das Erziehungsgeld 600 DM pro Monat. Das Erziehungsgeld wurde unabhängig von der Staats­an­ge­hö­rigkeit des Antragstellers gewährt. Voraussetzung war, dass der Anspruchsteller seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. In den Jahren 1989 und 1990 wurde das BErzGG dahingehend geändert, dass ein Ausländer nur dann einen Anspruch auf Erziehungsgeld hat, wenn er im Besitz einer Aufent­halts­be­rech­tigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufent­halts­be­fugnis ist. Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konso­li­die­rungs­pro­gramms vom 23. Juni 1993 wurde in § 1 BErzGG der Absatz 1 a eingefügt. Danach hatte ein Ausländer nur dann einen Anspruch auf Erziehungsgeld, wenn er im Besitz einer Aufent­halts­be­rech­tigung oder Aufent­halt­s­er­laubnis war. Inhaber von Aufent­halts­be­fug­nissen schloss der Gesetzgeber vom Erzie­hungs­geldbezug aus. Mit dieser Regelung, die ab dem 27. Juni 1993 galt, sollte der Anspruch auf Ausländer begrenzt werden, von denen zu erwarten war, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden. § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 galt bis zum 31. Dezember 2000. Danach hat der Gesetzgeber den Kreis der Berechtigten wieder weiter gefasst.

Sachverhalt:

Die Beschwer­de­führerin (Bf) reiste als türkische Staatsbürgerin mit ihrem Ehemann nach Deutschland ein. Sie erhielt eine befristete Aufent­halt­s­er­laubnis, die nach einer Änderung des Ausländerrechts als Aufent­halts­be­fugnis fort galt. Bei Ausländern mit einem solchen Aufent­halt­stitel war von der Durchsetzung der Ausreisepflicht auf Dauer abzusehen. Am 5. Juli 1993 wurde der Sohn der Bf geboren. Der Antrag der Bf auf Gewährung von Erziehungsgeld wurde abgelehnt. Ihre Klage vor den Sozialgerichten blieb ohne Erfolg. Mit ihrer Vb rügt die Bf eine Verletzung des Lebensrechts ihres Kindes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und des Gleich­heits­satzes (Art. 3 Abs. 1 GG).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: Nach § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 erhielten Ausländer mit Aufent­halts­be­fugnis kein Erziehungsgeld, unabhängig davon, wie verfestigt ihr Aufenthalt in Deutschland im Einzelfall war. Damit wurden sie schlechter gestellt als Deutsche und Ausländer mit Aufent­halts­be­rech­tigung oder Aufent­halt­s­er­laubnis. Diese Ungleich­be­handlung war nicht gerechtfertigt.

1. Soweit es (legitimes) Ziel von § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 war, Erziehungsgeld nur solchen Ausländern zu gewähren, von denen erwartet werden konnte, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben, war die Regelung ungeeignet, das Ziel zu erreichen. Denn die Art des Aufent­halt­s­titels allein eignet sich nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts und damit auch nicht als Abgren­zungs­kri­terium bei der Gewährung von Erziehungsgeld (siehe zur entsprechenden Regelung im Kindergeldrecht Beschluss des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 6. Juli 2004).

2. Auch der Zweck des Erzie­hungs­geldes, die Wahlfreiheit zwischen Kindererziehung und Berufstätigkeit zu sichern, rechtfertigt nicht die Anknüpfung an den Aufent­halt­stitel des Antragstellers. Zwar verstößt es nicht gegen den Gleich­heits­grundsatz, wenn der Gesetzgeber Ausländer vom Kindergeldbezug ausschließt, die aus Rechtsgründen ohnehin einer Erwer­b­s­tä­tigkeit nicht nachgehen dürfen. Es bestand aber kein Zusammenhang zwischen der Art des Aufent­halt­s­titels und der Erlaubnis zu arbeiten. Denn nach dem Ausländergesetz konnte jede Form der Aufenthaltsgenehmigung mit einer Auflage versehen werden, nach der eine Erwer­b­s­tä­tigkeit in Deutschland untersagt war. Andererseits konnten nach dem im fraglichen Zeitraum geltenden Arbeits­er­laub­nisrecht auch die Inhaber von Aufent­halts­be­fug­nissen zur Aufnahme einer Erwer­b­s­tä­tigkeit berechtigt sein.

3. Die weiteren mit der Gewährung von Erziehungsgeld verfolgten Zwecke (Entscheidung gegen eine Abtreibung, staatliche Anerkennung der Erzie­hungs­leistung, Regeneration der Mutter) kommen bei Ausländern mit Aufent­halts­be­fugnis nicht weniger zur Geltung als bei Deutschen und Ausländern mit Aufent­halts­be­rech­tigung oder Aufent­halt­s­er­laubnis.

4. Die Benachteiligung war auch nicht als verfas­sungs­rechtlich zulässige Typisierung gerechtfertigt. Bei der Ordnung von Masse­n­er­schei­nungen darf der Gesetzgeber typisieren und generalisieren, wenn die damit verbundenen Härten nicht besonders schwer wiegen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären. Angesichts eines Betrages von bis zu 14.400 DM pro Kind war der mit der Versagung des Erzie­hungs­geldes verbundene Nachteil durchaus von Gewicht. Auf der anderen Seite entlastete die Regelung die Verwaltung nur in geringem Umfang. Bei einer Anknüpfung des Erzie­hungs­geldes an die Arbeits­er­laubnis hätten die Behörden feststellen müssen, ob der Antragsteller über eine solche verfügt. Diese Prüfung wäre nicht aufwändiger gewesen als die Prüfung der Art des Aufent­halt­s­titels.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

der Leitsatz

Es ist mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar, Ausländer mit Aufent­halts­be­fugnis generell von der Gewährung von Erziehungsgeld auszuschließen. Der Gesetzgeber kann jedoch die Gewährung von Erziehungsgeld davon abhängig machen, dass der zur Betreuung eines Kindes bereite Elternteil an der Aufnahme oder Fortsetzung einer Erwer­b­s­tä­tigkeit rechtlich nicht gehindert ist.

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