18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss28.09.2022

Verfassungs­beschwerde gegen die Übermittlung mit nachrichten­dienstlichen Mitteln erhobener perso­nen­be­zogener Daten erfolgreichDatenweitergabe durch Verfas­sungs­schutz teils verfas­sungs­widrig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Übermittlungs­befugnisse der Verfassungs­schutz­behörden in Angelegenheiten des Staats- und Verfas­sungs­schutzes nach dem Bundes­verfassungs­schutz­gesetz (BVerfSchG) mit dem Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht vereinbar sind. Dies gilt, soweit sie zur Übermittlung perso­nen­be­zogener Daten verpflichten, die mit nachrichten­dienstlichen Mitteln erhoben wurden. Die betreffenden Vorschriften verstoßen gegen die Normenklarheit und den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Zudem fehlt es an einer spezifisch normierten Proto­kol­lierungs­pflicht. Die angegriffenen Normen gelten - mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch nach einschränkenden Maßgaben - bis zum 31. Dezember 2023 vorübergehend fort.

Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG übermittelt das Bundesamt für Verfassungsschutz perso­nen­be­zogene Daten und Informationen an Polizeien und Staats­an­walt­schaften, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staats­schutz­de­likten erforderlich ist. § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG definiert die Staats­schutz­delikte unter anderem als die in §§ 74 a und 120 des Gerichts­ver­fas­sungs­ge­setzes (GVG) genannten Straftaten sowie sonstige Straftaten, die gegen die in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 Buchstabe b oder c GG genannten Schutzgüter gerichtet sind. § 21 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG erstreckt die Übermitt­lungs­pflichten des § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfSchG entsprechend auf die Verfas­sungs­schutz­be­hörden der Länder. Auf diese Übermitt­lungs­re­ge­lungen verweist das Recht­s­ex­tre­mismus-Datei-Gesetz (RED-G). Die Recht­s­ex­tre­mismus-Datei ist eine der Bekämpfung des gewaltbezogenen Recht­s­ex­tre­mismus dienende Verbunddatei von Polizeibehörden und Nachrich­ten­diensten des Bundes und der Länder, die in ihrem Kern der Infor­ma­ti­o­ns­an­bahnung dient. Dazu werden in ihr spezifische perso­nen­be­zogene Daten gespeichert, wenn ihre Kenntnis für die Aufklärung oder Bekämpfung des gewaltbezogenen Recht­s­ex­tre­mismus erforderlich ist.

BVerfG bejahrt Verstoß gegen Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung

Der Beschwer­de­führer, der im Prozess um den Natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Untergrund rechtskräftig verurteilt wurde, wendet sich gegen die Übermitt­lungs­be­fugnisse der Verfas­sungs­schutz­be­hörden und rügt eine Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbst­be­stimmung. Die Verfas­sungs­be­schwerde ist zulässig, soweit sie sich gegen die Übermitt­lungs­vor­schriften in § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 21 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfSchG richtet. Der Beschwer­de­führer beanstandet die Übermitt­lung­s­tat­be­stände allerdings nur hinsichtlich der Übermittlung mit nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln heimlich erhobener perso­nen­be­zogener Daten. Soweit der Beschwer­de­führer zusätzlich die allgemeine Übermitt­lungs­be­fugnis des Bundesamtes für Verfas­sungs­schutz nach § 19 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG in der Fassung vom 5. Januar 2007 angegriffen hat, ist die Verfas­sungs­be­schwerde unzulässig. Nachdem in Folge einer Geset­ze­s­än­derung im Jahr 2015 die Altfassung außer Kraft getreten ist, fehlt es insoweit an einem fortdauernden Rechts­schutz­be­dürfnis. Der Beschwer­de­führer hat seine Verfas­sungs­be­schwerde auch nicht fristgerecht auf die Neufassung der Vorschrift umgestellt. Soweit die Verfas­sungs­be­schwerde zulässig ist, ist sie auch begründet. Durch Übermittlungen perso­nen­be­zogener Daten und Informationen nach den angegriffenen Regelungen ist das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung als Ausprägung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG betroffen. Die Übermittlung perso­nen­be­zogener Daten, mit der eine Behörde die von ihr erhobenen Daten einer anderen Stelle zugänglich macht, begründet einen erneuten Grund­recht­s­eingriff im Verhältnis zur ursprünglichen Datenerhebung. Die angegriffenen Vorschriften sind zwar in formeller Hinsicht mit der Verfassung vereinbar. Insbesondere steht dem Bund hier die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz zu. Denn die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG erstreckt sich nicht nur auf die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder, sondern auch auf die der Länder untereinander. Sie umfasst hingegen nicht die Regelung der Zusammenarbeit zwischen Behörden desselben Landes.

Anforderungen an Normenklarheit und Verhält­nis­mä­ßigkeit ungenügend

Die angegriffenen Übermitt­lungs­be­fugnisse genügen jedoch nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Normenklarheit und die Verhält­nis­mä­ßigkeit und enthalten keine ausreichenden Vorgaben für eine Protokollierung der Datenübermittlung. Ein Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit folgt hier allerdings nicht ohne weiteres bereits daraus, dass sich der Gesetzgeber mitunter mehrgliedriger Verwei­sungs­ketten bedient hat. Die Normenklarheit setzt der Verwendung gesetzlicher Verwei­sungs­ketten Grenzen, steht dieser aber nicht grundsätzlich entgegen. Maßgeblich bleibt die inhaltliche Verständ­lichkeit der Regelung für den Normbetroffenen. Bei der Normierung sicher­heits­recht­licher Daten­ver­a­r­bei­tungen kann es zweckdienlich sein, auf Fachgesetze zu verweisen, in deren Kontext Ausle­gungs­fragen – anders als bei heimlichen Maßnahmen – im Wechselspiel von Anwen­dung­s­praxis und gerichtlicher Kontrolle verbindlich geklärt werden können. Ob eine Verweisung mit dem Gebot der Normenklarheit vereinbar ist, hängt von einer wertenden Gesamt­be­trachtung unter Berück­sich­tigung möglicher Regelung­s­al­ter­nativen ab. Das Erfassen des Normgehaltes wird insbesondere durch Verwei­sungs­ketten erleichtert, die die in Bezug genommenen Vorschriften vollständig aufführen. Danach sind jedenfalls einige der selbst vielgliedrigen Verwei­sungs­ketten des § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG unter dem Aspekt der Normenklarheit nicht zu beanstanden. Jedoch regelt § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG die Voraussetzungen der Übermitt­lungs­pflicht nicht durchgehend normenklar. Verweisungen dürfen nicht durch die Inbezugnahme von Normen, die andersartige Spannungslagen bewältigen, ihre Klarheit verlieren und in der Praxis nicht zu übermäßigen Schwierigkeiten bei der Anwendung führen. Dies droht vorliegend dadurch, dass zur Bestimmung der Straftaten, die eine Übermitt­lungs­pflicht auslösen, ohne weitere Einschränkung auf § 120 Abs. 2 GVG verwiesen wird. Nach dieser Vorschrift wird die Zuständigkeit der Oberlan­des­ge­richte für bestimmte Straftaten nur begründet, wenn der General­bun­des­anwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles die Verfolgung übernimmt. Ob und inwieweit dieses Tatbe­stand­merkmal auch im Rahmen der – insbesondere gefah­re­n­ab­wehr­recht­lichen – Übermitt­lungs­pflicht zu berücksichtigen ist, lässt § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG in Verbindung mit § 120 Abs. 2 GVG nicht mit hinreichender Klarheit erkennen.

Übermitt­lungs­be­fugnisse stellen gegen Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit dar

Die in § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfSchG geregelten Übermitt­lungs­be­fugnisse verstoßen zudem gegen den Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit. Zwar dienen sie dem legitimen Zweck, Staats­schutz­delikte effektiv zu bekämpfen und damit einhergehend den Bestand und die Sicherheit des Staates sowie Leib, Leben und Freiheit der Bevölkerung zu schützen. Dass die angegriffenen Übermitt­lungs­be­fugnisse zur Erreichung dieser Zwecke grundsätzlich im verfas­sungs­recht­lichen Sinne geeignet und erforderlich sind, steht nicht in Zweifel. Sie sind jedoch nicht durchweg mit den Anforderungen des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne vereinbar. Nach diesem gilt für die Übermittlung perso­nen­be­zogener Daten und Informationen von Verfas­sungs­schutz­be­hörden an Sicher­heits­be­hörden mit operativen Anschluss­be­fug­nissen grundsätzlich ein infor­ma­ti­o­nelles Trennungs­prinzip. Aufgrund der weitreichenden Überwa­chungs­be­fugnisse der Verfas­sungs­schutz­be­hörden unterliegen derartige Übermittlungen gesteigerten Recht­fer­ti­gungs­vor­aus­set­zungen. Jedenfalls wenn perso­nen­be­zogene Daten und Informationen mit nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln erhoben wurden, beurteilen sich diese nach dem Kriterium der hypothetischen Neuerhebung. Danach kommt es darauf an, ob der empfangenden Behörde zu dem jeweiligen Übermitt­lungszweck eine eigene Datenerhebung und Infor­ma­ti­o­ns­ge­winnung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln wie der vorangegangenen Überwachung durch die Verfas­sungs­schutz­behörde erlaubt werden dürfte.

Trennungs­prinzip setzt strenge Anforderungen an Übermittlung voraus

Die Übermittlung an eine Gefah­re­n­ab­wehr­behörde setzt daher voraus, dass sie dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts dient, für das wenigstens eine hinreichend konkretisierte Gefahr besteht. Im Grundsatz steht es dem Gesetzgeber bei der Normierung der Übermitt­lungs­vor­aus­set­zungen frei, das erforderliche Rechtsgut nicht unmittelbar zu benennen, sondern an entsprechende Straftaten anzuknüpfen. Die Übermittlung kann dabei als Übermitt­lungs­schwelle grundsätzlich auch an die Gefahr der Begehung solcher Straftaten anknüpfen, bei denen die Straf­ba­r­keits­schwelle durch die Pönalisierung von Vorbe­rei­tungs­hand­lungen oder bloßen Rechts­gut­ge­fähr­dungen in das Vorfeld von Gefahren verlagert wird. Der Gesetzgeber muss dann aber sicherstellen, dass in jedem Einzelfall eine konkrete oder konkretisierte Gefahr für das durch den Straftatbestand geschützte Rechtsgut vorliegt. Diese ergibt sich nicht notwendiger Weise bereits aus der Gefahr der Tatbe­stands­ver­wirk­lichung selbst. Die Übermittlung an eine Straf­ver­fol­gungs­behörde kommt nur zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten in Betracht und setzt voraus, dass ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegt, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind. Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Vorschriften nicht. § 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG benennt bei der Regelung der Übermittlung nachrich­ten­dienstlich erhobener Daten zur Gefahrenabwehr nicht unmittelbar das zu schützende Rechtsgut, sondern knüpft – grundsätzlich zulässig – ebenso wie bei der Übermittlung zur Strafverfolgung an die in § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG aufgeführten Straftaten an. Allerdings können nicht alle in den §§ 74a, 120 GVG genannten und durch die Vorschrift pauschal in Bezug genommenen Straftaten als besonders schwere Straftaten qualifiziert werden. Gleiches gilt für den offenen Übermitt­lung­s­tat­bestand, der beliebige sonstige Straftaten alleine aufgrund ihrer Zielsetzung oder des Motivs des Täters mit einbezieht. Insoweit hilft es auch nicht, dass § 23 Nr. 1 BVerfSchG ein allgemeines Verbot unver­hält­nis­mäßiger Übermittlungen enthält. Dieser Pauscha­l­vor­behalt strukturiert den Abwägungs­prozess trotz der inzwischen erfolgten verfas­sungs­ge­richt­lichen Konkretisierung der Anforderungen jedenfalls wegen der in § 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG normierten Pflicht zur Übermittlung nicht in einer Weise, dass eine Beschränkung der Übermittlung auf Fälle gesichert wäre, in denen die notwendigen Voraussetzungen vorliegen.

Verfas­sungs­rechtlich gebotene Übermitt­lungs­schwelle in § 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG unzureichend

Darüber hinaus fehlt es an der verfas­sungs­rechtlich gebotenen Übermitt­lungs­schwelle. Die angegriffenen Vorschriften erlauben eine Übermittlung bereits dann, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese zur Verhinderung oder Verfolgung von Staats­schutz­de­likten erforderlich ist. Sie ermöglichen damit die Übermittlung von Informationen, die unabhängig von einer konkretisierten Gefahrenlage oder von bestimmten, den Verdacht begründenden Tatsachen als erforderlich angesehen werden können. Schließlich genügen die Übermitt­lungs­vor­schriften den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an eine spezifisch normierte Pflicht zur Protokollierung der Übermittlung sowie zur Nennung der für die Übermittlung in Anspruch genommenen Rechtsgrundlage nicht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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