23.11.2024
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Dokument-Nr. 30707

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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.07.2021

Verzinsung von Steuer­nach­forderungen und Steue­r­er­stat­tungen mit jährlich 6 % ab dem Jahr 2014 verfas­sungs­widrigGesetzgeber muss bis zum 31. Juli 2022 verfas­sungs­gemäße Neuregelung treffen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Verzinsung von Steuer­nach­forderungen und Steue­r­er­stat­tungen in § 233 a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (im Folgenden: AO) verfas­sungs­widrig ist, soweit der Zinsberechnung für Verzinsungs­zeiträume ab dem 1. Januar 2014 ein Zinssatz von monatlich ,5 % zugrunde gelegt wird.

§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuer­nach­for­de­rungen und Steue­r­er­stat­tungen. Die Verzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung (Grundsatz der Vollverzinsung). Der Zinslauf beginnt allerdings nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten. Von der Vollverzinsung betroffen sind damit lediglich diejenigen Steuer­pflichtigen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach der Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird.

Vollverzinsung wirkt sich sowohl zugunsten als auch zuungunsten der Steuer­pflichtigen aus

Praktisch bedeutsam sind insoweit insbesondere (geänderte) Steuer­fest­set­zungen nach einer Außenprüfung. Die Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 AO für jeden vollen Monat des Zinslaufs ,5 %, mithin 6 % jährlich. Von der Verzinsung erfasst werden nur die in § 233 a Abs. 1 Satz 1 AO abschließend aufgezählten Steuerarten der Einkommensteuer, Körper­schaft­steuer, Vermögensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer. Die Vollverzinsung wirkt sowohl zugunsten (im Fall der Steue­r­er­stattung) als auch zuungunsten (im Fall der Steuer­nach­for­derung) der Steuer­pflichtigen. Die Gründe für eine späte Steuer­fest­setzung und insbesondere, ob die Steuer­pflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden trifft, sind für die Verzinsung unerheblich.

Festsetzung von Nachzah­lungs­zinsen angegriffen

Die Verfas­sungs­be­schwerden haben die Festsetzung von Nachzah­lungs­zinsen gemäß § 233 a AO auf Gewerbesteuer nach einer Außenprüfung zum Gegenstand. Die Beschwer­de­füh­re­rinnen wenden sich gegen die die Verzinsung bestätigenden fachge­richt­lichen Urteile. Mittelbar wenden sie sich gegen § 233 a AO, soweit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO bei der Zinsberechnung Anwendung findet. Gegenstand der verfas­sungs­recht­lichen Prüfung ist ein Verzin­sungs­zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 14. Juli 2014.

BVerfG: Ungleich­be­handlung der Steuer­pflichtigen

Nach Auffassung des BVerfG war die Verzinsung von Steuer­nach­for­de­rungen nach § 233 a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ursprünglich verfas­sungsgemäß. Die Regelung ist jedoch nicht mehr mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit der Zinsberechnung für in das Jahr 2014 fallende Verzin­sungs­zeiträume ein Zinssatz von monatlich ,5 % zugrunde gelegt wird. Nach geltendem Recht werden Steuer­pflichtige, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuer­pflichtigen, deren Steuer innerhalb der Karenzzeit festgesetzt wird, ungleich behandelt. Nur erstere sind zinszah­lungs­pflichtig.

Betroffenen Freiheitsrechte zu berücksichtigen

Die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung bemisst sich nach strengeren Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen. Der Gleich­heits­grundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verbietet dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Diese bedarf jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleich­be­handlung angemessen sind. Je nach Regelungs­ge­genstand und Diffe­ren­zie­rungs­merkmalen ergeben sich unter­schiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhält­nis­mä­ßig­keits­er­for­der­nissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheits­rechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für Einzelne verfügbar sind. Dieser allgemeine gleich­heits­rechtliche Maßstab findet auch bei der Auswahl des Zinsgegenstands (Vollverzinsung nach § 233 a AO) und der Bestimmung des Zinssatzes (§ 238 AO) Anwendung.

Finanz­ver­waltung entscheidet über Zeitpunkt der Steuer­fest­setzung

Nach diesen Grundsätzen sind hier strengere Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen zu stellen. Zwar berührt die Vollverzinsung zulasten der Steuer­pflichtigen nach den §§ 233a, 238 AO im Wesentlichen nur die allgemeine Handlungs­freiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Die Eigen­tums­freiheit aus Art. 14 Abs. 1 GG ist hingegen von vornherein nicht betroffen, weil die Auferlegung einer Zinszah­lungs­pflicht die Vermö­gens­ver­hältnisse der Betroffenen nicht so grundlegend beeinträchtigt, dass sie eine erdrosselnde Wirkung entfaltet. Der Zeitpunkt der Steuer­fest­setzung und damit das Überschreiten der Karenzzeit sind für die einzelnen Steuer­pflichtigen allerdings weitestgehend nicht verfügbar. Es liegt letztlich in der Sphäre der Finanz­ver­waltung beziehungsweise - im Fall der Gewerbesteuer - in der Regel zusätzlich in der Sphäre der Gemeinden, wann die Steuer festgesetzt wird.

Zweck der Vollverzinsung legitim

§ 233 a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO genügte anfänglich den hier anzuwendenden strengeren Recht­fer­ti­gungs­an­for­de­rungen und war verfas­sungsgemäß. Das Ziel der Vollverzinsung, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuer­pflichtigen zu unter­schied­lichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden, ist legitim. Der Verzinsung der Steuer­nach­for­de­rungen liegt die Annahme zugrunde, dass Steuerschuldner, deren Steuer erst spät festgesetzt wird, einen fiktiven Zinsvorteil haben. Zweck der Vollverzinsung ist die Abschöpfung dieses Zinsvorteils. Die Vollverzinsung als solche ist auch geeignet, die Erreichung dieses Ziels zu fördern. Dies gilt grundsätzlich auch unter Berück­sich­tigung der Höhe des Zinssatzes, da jedenfalls bis in das Jahr 2014 noch regelmäßig Habenzinsen erzielt werden konnten.

Vollverzinsung auch erforderlich

Die Vollverzinsung ist als solche auch erforderlich. Weder die Abschöpfung des tatsächlich erzielten Liqui­di­täts­vorteils der Steuer­pflichtigen noch eine Ausgestaltung der Vollverzinsung dahingehend, dass Nachzah­lungs­zinsen nur bei einer von den Steuer­pflichtigen selbst verursachten späten Steuer­fest­setzung erhoben werden, sind zur Erreichung des Diffe­ren­zie­rungs­zwecks in gleicher Weise geeignet. Auch soweit die Vollverzinsung an einen starren Zinssatz anknüpft, begegnet ihre Erfor­der­lichkeit keinen Bedenken. Ein variabler Zinssatz bewirkt nicht per se eine geringere Ungleichheit als ein starrer Zinssatz. Die Vollverzinsung mit einem Zinssatz von ,5 % pro Monat erweist sich allerdings für in das Jahr 2014 fallende Verzin­sungs­zeiträume als nicht mehr erforderlich und verstößt gegen den Gleich­heits­grundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Gesamtschau der erkennbaren Motive und Erwägungen erforderlich

Der Gesetzgeber ist dem Grunde nach berechtigt, den durch eine späte Steuer­fest­setzung erzielten Zinsvorteil der Steuer­pflichtigen zum Zwecke der Verwal­tungs­ver­ein­fachung typisierend zu bestimmen. Allerdings darf er keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss bei seiner Maßstabsbildung reali­täts­gerecht den typischen Fall zugrunde legen. Da der Gesetzgeber die Höhe des gewählten Zinses zu keiner Zeit ausdrücklich begründet hat, ist eine Gesamtschau der erkennbaren Motive und Erwägungen erforderlich, um die zumindest vermutlich leitenden Kriterien bei der Bemessung des Zinssatzes zu bestimmen. Dem Vorteils­aus­gleich durch eine Vollverzinsung im Nachzah­lungsfall liegt die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, dass es sich bei dem abzuschöpfenden Vorteil um einen potentiell entstehenden Zinsvorteil handelt. Zur Bestimmung dieses Zinsvorteils mit monatlich ,5 % knüpfte der Gesetzgeber im Jahr 1990 an den bereits für die bisherigen Verzin­sung­s­tat­be­stände der Abgabenordnung geltenden § 238 AO an. Dies begründete er allein mit der Praktikabilität des vorgefundenen festen Zinssatzes. Erkennbar sind aber auch Bezüge zum damaligen Diskontsatz, der durch den heutigen Basiszinssatz abgelöst wurde. Im Blick hatte der Gesetzgeber offenbar weiterhin den Marktzins und einen Gleichlauf der Höhe von Nachzahlungs- und Erstat­tungs­zinsen. Diese vom Gesetzgeber bei der Bemessung des Zinssatzes als maßstabsbildend zugrunde gelegten Kriterien sind in ihrer Gesamtheit sachgerecht, um den potentiell entstehenden Vorteil einer späten Steuer­fest­setzung abzubilden.

Zinssatz von monatlich 6 % war zunächst verfas­sungsgemäß

Die Vollverzinsung zulasten der Steuer­pflichtigen mit einem Zinssatz von monatlich ,5 % war danach zunächst verfas­sungsgemäß. Die Annahme des Gesetzgebers, dass dieser Zinssatz den durch eine späte Steuer­fest­setzung potentiell entstehenden Vorteil abbildet, traf im Jahr der Verabschiedung des Steuer­re­form­ge­setzes 1990 zu, mit dem die Vollverzinsung in die Abgabenordnung eingeführt wurde. Der Zinssatz entsprach mit jährlichen Zinsen von 6 % in etwa den insoweit maßstabs­re­le­vanten Verhältnissen am Geld- und Kapitalmarkt.

Finanzkrise führte zu strukturellem Niedrig­zins­niveau

Die Verzinsung mit einem Zinssatz von monatlich ,5 % ist trotz der grundsätzlichen Einschät­zungs­prä­ro­gative des Gesetzgebers aber dann nicht mehr zu rechtfertigen, wenn sich der typisiert festgelegte Zinssatz im Laufe der Zeit unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident realitätsfern erweist. Dies ist spätestens seit dem Jahr 2014 der Fall. Nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich ein strukturelles Niedrig­zins­niveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwan­kungen ist. Dies zeigt sich zunächst in der Entwicklung des Basiszinssatzes. Während er im Jahr 2008 noch bei über 3 % lag, sank er im Laufe des Jahres 2009 rapide auf ,12 %. Seit Januar 2013 liegt er im negativen Bereich. Vor dem Hintergrund, dass sich der Diskontsatz in den fünfzig Jahren seines Bestehens zwischen 2,5 % und 8,75 % und der Basiszinssatz sich vor 2009 zwischen 1,13 % und 3,32 % bewegt hat, zeigt diese Entwicklung ein Niedrig­zins­niveau auf, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwan­kungen, sondern spätestens seit dem Jahr 2014 struktureller und nachhaltiger Natur ist.

Zinssatz von jährlich 6 % spätestens seit 2014 "evident realitätsfern"

Einen entsprechenden Trend zeigt die Entwicklung der Zinsen am Kapitalmarkt auf. Im Jahr 2014 hatte sich der jährlich 6 %-ige Zinssatz bereits so weit vom tatsächlichen Marktzinsniveau entfernt, dass er schon in etwa das Doppelte des höchsten überhaupt noch erzielbaren Habenzinssatzes ausmachte. Die maßstabsbildend zu berück­sich­ti­genden Kreditzinssätze folgten ebenfalls dem zuvor aufgezeigten Abwärtstrend. Der typisierte Zinssatz von jährlich 6 % erweist sich daher unter den nach Ausbruch der Finanzkrise veränderten tatsächlichen Bedingungen spätestens seit dem Jahr 2014 als evident realitätsfern. Er ist in dem sich verfestigenden Niedrig­zins­niveau offensichtlich nicht mehr in der Lage, den durch eine späte Heranziehung zur Steuer entstehenden potentiellen Vorteil hinreichend abzubilden. Mit ihrer Anknüpfung an einem jährlichen Zinssatz von 6 % entfaltet die Vollverzinsung damit spätestens für in das Jahr 2014 fallende Verzin­sungs­zeiträume im Regelfall eine überschießende Wirkung und ist insofern verfassungswidrig geworden.

Zinssatz bis 2013 nicht unver­hält­nismäßig

Für bis in das Jahr 2013 fallende Verzin­sungs­zeiträume ist der gesetzliche Zinssatz zwar zunehmend weniger in der Lage, den Erhebungszweck der Nachzah­lungs­zinsen abzubilden. Die Vollverzinsung entfaltet insoweit jedoch noch keine evident überschießende Wirkung. Sie ist auch nicht unver­hält­nismäßig im engeren Sinne. Ein verfas­sungs­rechtlich auffälliges Missverhältnis besteht insoweit noch nicht. Auch das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitende Übermaßverbot ist insofern nicht verletzt. Die Vorteile des typisiert bestimmten starren Zinssatzes in der Verwal­tung­s­praxis stehen noch in einem rechten Verhältnis zu der damit verbundenen Ungleich­be­handlung der zinszah­lungs­pflichtigen Steuerschuldner. Das Niedrig­zins­niveau hatte sich bis 2013 noch nicht derart verfestigt, dass der gesetzlich bestimmte Zinssatz als im Regelfall evident realitätsfern erscheint.

Verfas­sungs­be­schwerden nur teilweise begründet

Die Verfas­sungs­be­schwerde zu I. im Verfahren 1 BvR 2237/14 ist - soweit sie zulässig ist - unbegründet, denn sie betrifft eine Zinsfestsetzung für den Zeitraum von 2010 bis 2012. Die Verfas­sungs­be­schwerde zu II. im Verfahren 1 BvR 2422/17 ist teilweise begründet. Soweit sie den Verzin­sungs­zeitraum vom 1. Januar 2014 bis 14. Juli 2014 betrifft, verletzt die Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richts die Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richtshofs verletzt sie in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Im Übrigen ist die Verfas­sungs­be­schwerde unbegründet. Im Ergebnis wird § 233 a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für umfassend und für alle Verzin­sungs­zeiträume ab dem 1. Januar 2014 mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.

Unanwendbarkeit der Vorschrift. ab 2019

Aufgrund des einheitlichen Regelungs­konzepts des Gesetzgebers beschränkt sich die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233 a AO nicht nur auf Nachzah­lungs­zinsen zulasten der Steuer­pflichtigen, sondern umfasst ebenso die Erstat­tungs­zinsen zugunsten der Steuer­pflichtigen. Für Verzin­sungs­zeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 gilt die Vorschrift jedoch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfas­sungs­gemäße Regelung zu schaffen. Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzin­sungs­zeiträume bleibt es hingegen bei der Unanwendbarkeit der Vorschrift. Insoweit ist der Gesetzgeber verpflichtet, eine Neuregelung bis zum 31. Juli 2022 zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzin­sungs­zeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestands­kräftigen Hoheitsakte erfasst.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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