18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil11.03.2008

Automatisches Kfz-Kennzeichen-Scanning ist verfas­sungs­widrigHessische und schleswig-holsteinische Vorschriften zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen nichtig

Die Verfas­sungs­be­schwerden mehrerer Kraft­fahr­zeug­halter gegen polizei­rechtliche Vorschriften in Hessen und Schleswig-Holstein, die zur automatisierten Erfassung der amtlichen Kfz-Kennzeichen ermächtigen, waren erfolgreich. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die angegriffenen Vorschriften für nichtig erklärt, da sie das allgemeine Persön­lich­keitsrecht der Beschwer­de­führer in seiner Ausprägung als Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung verletzen.

Die beanstandeten Regelungen genügen nicht dem Gebot der Normen­be­stimmtheit und Normenklarheit, da sie weder den Anlass noch den Ermitt­lungszweck benennen, dem die Erhebung und der Abgleich der Daten dienen sollen. Darüber hinaus genügen die angegriffenen Vorschriften in ihrer unbestimmten Weite auch dem verfas­sungs­recht­lichen Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht. Sie ermöglichen schwer wiegende Eingriffe in das informationelle Selbst­be­stim­mungsrecht der Betroffenen, ohne die für derart eingriff­sin­tensive Maßnahmen grundrechtlich geforderten gesetzlichen Eingriffs­schwellen hinreichend zu normieren.

Sachverhalt

Die Verfas­sungs­be­schwerden richten sich gegen polizei­ge­setzliche Vorschriften, zur automatisierten Erfassung von Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen auf öffentlichen Straßen und Plätzen zum Zwecke eines elektronischen Abgleichs mit dem Fahndungs­bestand ermächtigen. Angegriffen sind § 14 Abs. 5 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) und § 184 Abs. 5 des Allgemeinen Verwal­tungs­ge­setzes für das Land Schleswig-Holstein (Landes­ver­wal­tungs­gesetz - LVwG -).

Die Fahrzeuge werden zunächst durch eine Kamera optisch erfasst. Mit Hilfe von Software wird die Buchstaben- und Zeichenfolge des amtlichen Kennzeichens ermittelt. Die Erfassung kann stationär oder mobil erfolgen. Bei stationären Systemen werden die Erfas­sungs­geräte, vergleichbar der Geschwin­dig­keits­messung, an einem bestimmten Ort eingesetzt. Bei mobilen Systemen werden die Geräte etwa aus einem fahrenden Polizeifahrzeug heraus eingesetzt, zum Beispiel um Fahrzeuge auf einem Parkplatz oder im fließenden Verkehr zu kontrollieren. Die erfassten Kennzeichen werden automatisch mit dem Fahndungs­bestand abgeglichen. Ist ein Kennzeichen im Fahndungs­bestand enthalten, werden die betreffenden Informationen gespeichert. Die Maßnahme soll der Suche nach Fahrzeugen oder Kennzeichen dienen, die als gestohlen gemeldet sind oder nach denen aus sonstigen Gründen gefahndet wird.

Die Beschwer­de­führer sind eingetragene Halter ihrer Kraftfahrzeuge, mit denen sie regelmäßig auf öffentlichen Straßen in dem jeweiligen Bundesland unterwegs sind. Sie sehen sich in ihrem Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Die angegriffenen Vorschriften seien zu unbestimmt, insbesondere sei der Verwen­dungszweck für die erlangten Informationen nicht hinreichend klar geregelt. Das Grundrecht werde auch in unver­hält­nis­mäßiger Weise beschränkt. Mit einem einzigen Erfassungsgerät könnten pro Stunde mehrere tausend Kennzeichen erfasst werden, so dass die Polizeibehörden voraus­set­zungslos zu einer massenhaften heimlichen Beobachtung von Unverdächtigen ermächtigt würden. Außerdem fehle den Ländern die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz, weil die Kennzei­che­n­er­fassung im Schwerpunkt Zwecken der Strafverfolgung diene.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung verletzt

I. Die automatisierte Kennzei­che­n­er­fassung greift in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbst­be­stimmung ein, wenn das Kennzeichen nicht unverzüglich mit dem Fahndungs­bestand abgeglichen und ohne weitere Auswertung sofort wieder gelöscht wird.

1. Der grundrechtliche Schutz entfällt nicht schon deshalb, weil die betroffene Information öffentlich zugänglich ist - wie es für Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen, die der Identifizierung dienen, sogar vorgeschrieben ist. Auch wenn der Einzelne sich in die Öffentlichkeit begibt, schützt das Recht der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung dessen Interesse, dass die damit verbundenen perso­nen­be­zogenen Informationen nicht im Zuge automatisierter Infor­ma­ti­o­ns­er­hebung zur Speicherung mit der Möglichkeit der Weiter­ver­wertung erfasst werden.

2. Zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbst­be­stimmung kommt es in den Fällen der elektronischen Kennzei­che­n­er­fassung aber dann nicht, wenn der Abgleich mit dem Fahndungs­bestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden. In diesen Fällen begründen die Daten­er­fas­sungen keinen Gefähr­dung­s­tat­bestand.

3. Demgegenüber liegt ein Eingriff in das Grundrecht vor, wenn ein erfasstes Kennzeichen im Speicher festgehalten wird und gegebenenfalls Grundlage weiterer Maßnahmen werden kann. Darauf vor allem ist die Maßnahme gerichtet, wenn das Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen im Fahndungs­bestand aufgefunden wird. Ab diesem Zeitpunkt steht es zur Auswertung durch staatliche Stellen zur Verfügung und es beginnt die spezifische Persön­lich­keits­ge­fährdung für Verhal­tens­freiheit und Privatheit.

II. Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung müssen auf einer verfas­sungs­mäßigen gesetzlichen Grundlage beruhen. Die angegriffenen Vorschriften erfüllen diese Voraussetzung nicht.

1. Die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Ermäch­ti­gungs­grundlage richten sich nach dem Gewicht des Eingriffs, das insbesondere von der Art der erfassten Information, dem Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der möglichen Verwertung der Daten beeinflusst wird.

Die vorliegend zu beurteilende automatisierte Kennzei­che­n­er­fassung kann insbesondere je nach Verwen­dungs­kontext zu Grund­rechts­be­schrän­kungen von unter­schied­lichem Gewicht führen. Dient sie allein dem Zweck, gestohlene Fahrzeuge ausfindig zu machen und deren Fahrer zu "stellen", insbesondere auch um Anschlusstaten zu verhindern, oder die Weiterfahrt von Fahrzeugen ohne ausreichenden Versi­che­rungs­schutz auszuschließen, weist die Maßnahme für den Betroffenen eine vergleichsweise geringe Persön­lich­keits­re­levanz auf. Soll die automatisierte Kennzei­che­n­er­fassung dagegen dazu dienen, die gewonnenen Informationen für weitere Zwecke zu nutzen, etwa um Aufschlüsse über das Bewegungs­ver­halten des Fahrers oder sonstige persön­lich­keits­re­levante Informationen über einzelne Fahrten zu erhalten, so wandelt sich die Grund­rechts­re­levanz der Maßnahme. Insbesondere durch längerfristige oder weiträumig vorgenommene Kennzei­che­n­er­fas­sungen sind Eingriffe von erheblichem Gewicht möglich.

Verstoß gegen das Gebot der Normen­be­stimmtheit und Normenklarheit

2. Die Normen verstoßen gegen das Gebot der Normen­be­stimmtheit und Normenklarheit.

a) Es fehlt an einer hinreichenden bereichs­s­pe­zi­fischen und normenklaren Bestimmung des Anlasses und des Verwen­dungs­zwecks der automatisierten Erhebung.

Die angegriffenen Vorschriften erlauben die Kennzei­che­n­er­fassung "zum Zwecke" des Abgleichs mit dem Fahndungs­bestand. Damit wird jedoch weder der Anlass noch der Ermitt­lungszweck benannt, dem sowohl die Erhebung als auch der Abgleich letztlich dienen sollen. Eine Präzisierung des Anwen­dungs­be­reichs der Ermächtigung wird durch die Verwendung der Begriffe des "Fahndungs­be­stands" und der "Fahndungs­no­tierung" nicht geleistet. Diese Begriffe haben den Charakter einer dynamischen Verweisung, durch die insbesondere nicht ausgeschlossen wird, dass sich der Umfang der einbezogenen Datenbestände laufend und in gegenwärtig nicht vorhersehbarer Weise verändert.

Die gesetzlichen Ermächtigungen sind so unbestimmt gefasst, dass sie es nicht ausschließen, auch Ausschreibungen zur polizeilichen Beobachtung als Bestandteil des Fahndungs­be­stands anzusehen mit der Folge, dass mit Hilfe der automatisierten Kennzei­che­n­er­fassung auch eine polizeiliche Beobachtung durchgeführt werden kann. Damit wird eine systematische, räumlich weit reichende Sammlung von Informationen über das Bewegungs­ver­halten von Fahrzeugen und damit auch von Personen technisch und mit relativ geringem Aufwand möglich. Der Eingriff erhält dadurch eine veränderte Qualität mit gesteigerter Intensität und bedarf einer darauf abgestimmten Eingriffs­er­mäch­tigung.

Das in Schleswig-Holstein normierte Verbot eines flächen­de­ckenden Einsatzes führt nur zu einer gewissen Eingrenzung des möglichen Umfangs der Kennzei­che­n­er­fassung. Damit wird jedoch weder ein routinemäßiger Einsatz einer anlasslosen Kennzei­che­n­er­fassung noch deren gezielter Einsatz zur Beobachtung bestimmter Fahrzeuge ausgeschlossen. Infolge der Anknüpfung der Maßnahme an den Fahndungs­bestand bei gleichzeitiger Unbestimmtheit des Verwen­dungs­zwecks ist den landes­recht­lichen Regelungen nicht zu entnehmen, ob die Kennzei­che­n­er­fassung auch zu straf­pro­zes­sualen Zwecken, einschließlich der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten im Vorfeld eines Verdachts, eingesetzt werden darf.

Selbst wenn es möglich sein dürfte, einige der Bestimmt­heits­de­fizite durch Auslegung zu beseitigen, können die Mängel, insbesondere die fehlende Bestimmtheit des Verwen­dungs­zweckes, nicht insgesamt durch eine einengende verfas­sungs­konforme Auslegung geheilt werden. Eine solche Auslegung setzt Anhaltspunkte dafür voraus, dass der enger gefasste Zweck der maßgebliche sein soll. Daran fehlt es hier.

b) Mit dem Fehlen der Zweckbestimmung der automatisierten Kennzei­che­n­er­fassung geht eine grund­rechts­widrige Unbestimmtheit auch hinsichtlich der erhebbaren Informationen einher. Beide Regelungen lassen offen, ob oder gegebenenfalls welche weiteren Informationen neben der Ziffern- und Zeichenfolge des Kennzeichens erhoben werden dürfen. Obwohl die Bestimmungen bei enger Auslegung allein eine Erfassung des Kfz-Kennzeichens erlauben, geht mit der gegenwärtig üblichen Erhebung des Kennzeichens durch Videobilder notwendig eine Erfassung aller auf dem Bild erkennbaren Einzelheiten, möglicherweise auch solche über die Insassen des Fahrzeugs einher. Da der Verwen­dungszweck für die erhobenen Informationen nicht hinreichend klar und bestimmt geregelt ist, kann auch der Umfang der erhebbaren Informationen durch eine solche, auf die Zweckbestimmung verweisende Auslegung nicht hinreichend eingegrenzt werden.

Verfas­sungs­recht­liches Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht gewahrt

3. Die angegriffenen Bestimmungen genügen in ihrer unbestimmten Weite auch dem verfas­sungs­recht­lichen Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht.

Sie ermöglichen schwer wiegende Eingriffe in das informationelle Selbst­be­stim­mungsrecht der Betroffenen, ohne die für derart eingriff­sin­tensive Maßnahmen grundrechtlich geforderten gesetzlichen Eingriffs­schwellen hinreichend zu normieren. Mit dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist es insbesondere nicht vereinbar, dass die angegriffenen Vorschriften aufgrund ihrer unbestimmten Weite anlasslos erfolgende oder - so jedenfalls in Hessen - flächendeckend durchgeführte Maßnahmen der automatisierten Erfassung und Auswertung von Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen ermöglichen. Zudem ermöglicht die gesetzliche Ermächtigung die automatisierte Erfassung und Auswertung von Kraft­fahr­zeug­kenn­zeichen, ohne dass konkrete Gefahrenlagen oder allgemein gesteigerte Risiken von Rechts­gut­ge­fähr­dungen oder -verletzungen einen Anlass zur Einrichtung der Kennzei­che­n­er­fassung geben. Unterblieben ist auch eine Begrenzung auf eine stich­pro­benhafte Durchführung der Maßnahme, die zur Ermöglichung von Eingriffen lediglich geringerer Intensität, etwa zur Erfassung der Kennzeichen gestohlener Kraftfahrzeuge, zulässig wäre.

III. Den Landes­ge­setz­gebern stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, um eine im Rahmen ihrer Zuständigkeit verbleibende und sowohl hinreichend bestimmte als auch angemessene Eingriffs­er­mäch­tigung zu schaffen. Für eine die Verhält­nis­mä­ßigkeit wahrende Regelung der Voraussetzungen der automatisierten Kennzei­che­n­er­fassung scheidet ein weit gefasster Verwen­dungszweck beispielsweise dann nicht aus, wenn er mit engen Begrenzungen der Eingriffs­vor­aus­set­zungen kombiniert ist, wie es die derzeitige branden­bur­gische Regelung vorsieht. Möglich sind ferner Kombinationen von enger gefassten Zweck­be­stim­mungen, die die Kennzei­che­n­er­fassung auf nicht eingriff­sin­tensive Verwen­dungs­zwecke begrenzen, mit entsprechend geringeren Voraussetzungen für die Aufnahme in den Fahndungs­bestand und die Voraussetzungen für den Erhebungsanlass.

Quelle: ra-online, Pressemitteilungen des BVerfG vom 27.09.2007 und 11.03.2008

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