18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss21.06.2011

BVerfG: Regelung zum studi­en­dau­e­r­ab­hängigen Teilerlass der BAföG-Rückzahlung teilweise verfas­sungs­widrigStudenten in den neuen Bundesländern werden durch das BAföG-Gesetz benachteiligt

Der den Teilerlass von BAföG regelnde § 18 Abs. 3 Satz 1 BAföG ist in der vorherigen und auch in der nachfolgenden Fassungen dann nicht mit dem allgemeinen Gleich­heits­grundsatz Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, soweit es danach Studierenden wegen Rechts­vor­schriften zur Mindest­stu­di­enzeit einerseits und zur Förde­rungs­höchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen großen Teilerlass zu erhalten. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Der Beschwer­de­führer im vorliegenden Fall begann im Wintersemester 1991/92 in den neuen Bundesländern sein Medizinstudium, das er im ersten Monat nach dem Ende des 12. Semesters erfolgreich abschloss. Während des Studiums erhielt er Ausbil­dungs­för­derung nach dem BAföG. Das Bundes­ver­wal­tungsamt legte im Verfahren zur Festsetzung der Darlehensrückzahlung unter Zugrundelegung der Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten deren Ende auf den Monat Dezember 1997 fest und gewährte dem Beschwer­de­führer lediglich einen kleinen Teilerlass, da er das Studium nur zwei Monate vor dem Ende der Förde­rungs­höchstdauer abgeschlossen habe. Seine im Wesentlichen gegen die Versagung des großen Teilerlasses gerichteten Klagen blieben vor den Verwal­tungs­ge­richten ohne Erfolg.

Teilerlass der BAföG bei schnellerem Studi­e­n­ab­schluss

Die bedürf­tig­keits­ab­hängige Ausbil­dungs­för­derung nach dem BAföG wird bei Univer­si­täts­s­tu­dien­gängen für eine Förde­rungs­höchstdauer zur Hälfte als unverzinsliches Darlehen erbracht. Nach § 18 b BAföG kann das Darlehen bei erfolgreichem Studi­e­n­ab­schluss teilweise erlassen werden. Neben einem leistungs­ab­hängigen Teilerlass kommt ein studi­en­dau­e­r­ab­hängiger Teilerlass in Betracht. In der hier maßgeblichen Fassung des § 18 b Abs. 3 BAföG vom 22. Mai 1990 werden dem Studierenden 5.000 DM des Darlehens erlassen, wenn er sein Studium vier Monate vor Ablauf der Förde­rungs­höchstdauer erfolgreich beendet (großer Teilerlass); beträgt der Zeitraum nur zwei Monate, werden 2.000 DM erlassen (kleiner Teilerlass).

Erreichen des großen Teilerlasses für Human­me­di­zin­stu­denten kaum möglich

Das ärztliche Berufsrecht sieht seit den 1970er Jahren eine zur Erlangung der Approbation als Arzt erforderliche Mindeststudienzeit von sechs Jahren vor. Die Regel­stu­di­enzeit beträgt im Studiengang Humanmedizin sechs Jahre und drei Monate und setzt sich aus der Mindest­stu­di­enzeit und der für die Ablegung der letzten Prüfung notwendigen Zeit von maximal drei Monaten zusammen. Die zunächst in der Förde­rungs­höchst­dau­e­r­ver­ordnung für die einzelnen Studiengänge geregelte Förde­rungs­höchstdauer wurde seit Mitte der 1980er Jahre nach und nach der Regel­stu­di­enzeit angeglichen. Während die Förde­rungs­höchstdauer im Studiengang Humanmedizin seit 1986 dreizehn Semester betragen hatte, wurde sie für alle Studiengänge in den neuen Bundesländern bereits seit der Wieder­ver­ei­nigung zum 1. Januar 1991 nach der Regel­stu­di­enzeit bemessen. Dadurch war es den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern von vornherein unmöglich, einen großen Teilerlass zu erreichen, da sie eine Mindest­stu­di­enzeit von zwölf Semestern zu absolvieren hatten und deshalb ihr Studium nicht vier Monate vor Ende der Förde­rungs­höchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten abschließen konnten. Die Verkürzung der Förde­rungs­höchstdauer galt ebenso für Studierende der Humanmedizin, die ab dem Sommersemester 1993 ihr Studium in den alten Ländern aufgenommen hatten. Wer allerdings - wie bei einem Studienbeginn im Wintersemester 1992/93 oder früher - sein viertes Fachsemester am 1. Oktober 1994 in den alten Ländern vollendet hatte, konnte den großen Teilerlass erreichen, weil für ihn nach einer Überg­angs­re­gelung noch die alte Förde­rungs­höchstdauer von dreizehn Semestern galt.

Rechts­vor­schriften zur Mindest­stu­di­enzeit und Förde­rungs­höchstdauer mit Gleichheitssatz unvereinbar

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG sowohl in der hier maßgeblichen Fassung als auch in den nachfolgenden Fassungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar ist, soweit es danach Studierenden wegen Rechts­vor­schriften zur Mindest­stu­di­enzeit einerseits und zur Förde­rungs­höchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen großen Teilerlass zu erhalten. In diesem Umfang dürfen die Gerichte und Verwal­tungs­be­hörden die Vorschrift nicht mehr anwenden. Der Gesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2011 für alle betroffenen Studierenden, deren Verwaltungs- oder Gerichts­ver­fahren über die Gewährung eines großen Teilerlasses noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen sind, eine gleich­heits­ge­rechte Neuregelung zu treffen. Des Weiteren hat der Senat die zur Versagung des großen Teilerlasses ergangenen Entscheidungen der Verwal­tungs­ge­richte aufgehoben, weil sie - wie die Entscheidung des Bundes­ver­wal­tung­samtes - den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das erstin­sta­nzliche Verwal­tungs­gericht zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Beschwer­de­führer wird durch § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG in Verbindung mit den einschlägigen Vorschriften zur Förde­rungs­höchstdauer einerseits und zur Mindest­stu­di­enzeit andererseits sowie durch die daraus folgende Versagung eines großen Teilerlasses in seinem Grundrecht auf Gleich­be­handlung verletzt, weil es ihm als Studierendem der Humanmedizin in den neuen Ländern von vornherein objektiv unmöglich war, in den Genuss eines großen Teilerlasses zu kommen.

Ungleich­be­handlung auch zwischen Studierenden in alten und neuen Bundesländern

Zum einen wird er gegenüber den Studierenden der Humanmedizin ungleich behandelt, die im Wintersemester 1992/1993 oder früher ihr Studium in den alten Ländern aufgenommen und im Sommersemester 1994 ihr viertes Fachsemester vollendet haben, weil für diese eine Förde­rungs­höchstdauer von dreizehn Semestern galt und sie damit bei einem Abschluss des Studiums vor Ablauf des zweiten Monats nach Ende der Mindest­stu­di­enzeit einen großen Teilerlass erhalten konnten. Zum anderen liegt eine Ungleichbehandlung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge vor, in denen entweder gar keine Mindest­stu­di­enzeit gilt oder Mindest­stu­di­enzeit und Förde­rungs­höchstdauer so bemessen sind, dass ein Abschluss des Studiums vier Monate vor dem Ende der Förde­rungs­höchstdauer möglich bleibt.

Diese Ungleich­be­hand­lungen sind nicht gerechtfertigt. Zwar steht dem Gesetzgeber bei der Gewährung von Leistungen ein Spielraum zu; insbesondere zur Bewältigung der deutschen Einheit darf er auch mit Härten verbundene Regelungen treffen. Es ist jedoch kein Grund dafür ersichtlich, den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern die Begünstigung eines großen Teilerlasses von vornherein zu versagen, während sie Medizin­stu­denten in den alten Ländern nach der Wieder­ver­ei­nigung noch übergangsweise offen stand. Der Zweck des § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG, Anreize für einen möglichst raschen Studi­e­n­ab­schluss zu setzen, besteht gegenüber Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern ebenso wie in den alten Ländern.

Strukturelle Fehler der Geset­zes­kon­zeption ursächlich

Auch die Befugnis des Gesetzgebers, bei der Ordnung von Masse­n­er­schei­nungen typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, vermag die oben genannten Ungleich­be­hand­lungen nicht zu rechtfertigen. Die unzureichende Berück­sich­tigung gesetzlicher Mindest­stu­di­en­zeiten und ihres Verhältnisses zur Förde­rungs­höchstdauer kann gesamte Studiengänge und damit eine große Anzahl von Studierenden von der Möglichkeit eines großen Teilerlasses ausschließen. Dieser Ausschluss ist ohne unzumutbaren Aufwand vermeidbar, indem die Regeln über Teilerlass, Förde­rungs­höchstdauer und Mindest­stu­di­enzeit aufeinander abgestimmt werden. Er ist daher nicht aus verwal­tung­s­prak­tischen oder sonstigen Gründen sachlich geboten, sondern hat seine Ursache allein in einem strukturellen Fehler der Geset­zes­kon­zeption.

Die Benachteiligung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge ist nicht durch andere Sachgründe gerechtfertigt. Dass sich der Studiengang Humanmedizin durch die höchste Förde­rungs­höchstdauer von allen universitären Studiengängen auszeichnet, ist dem Umfang des Studiums und der gesetzlich bestimmten und auch europarechtlich vorgegebenen Mindest­stu­di­enzeit geschuldet. Ein tragfähiger Sachgrund, Studierenden einen großen Teilerlass deshalb zu versagen, weil sie sich für ein umfangreiches Studium entschieden haben, existiert nicht. Vielmehr besteht aus Sicht der Geförderten bei langer Studien und Förderungsdauer sogar ein größeres Bedürfnis für einen großen Teilerlass, da die zurück­zu­zahlende Darlehenssumme in der Regel höher ausfällt als bei kürzeren Studiengängen.

Gleich­heits­verstoß betrifft alle Studiengänge mit Mindest­stu­di­enzeit und Förde­rungs­höchstdauer

Die Verletzung des Grundrechts auf Gleich­be­handlung betrifft nicht nur Studierende der Humanmedizin in den neuen Ländern, sondern liegt auch bei Studierenden der Humanmedizin in den alten Ländern ab Sommersemester 1993 gegenüber solchen Studiengängen vor, die die Voraussetzungen des großen Teilerlasses nach Maßgabe der für sie geltenden Mindest­stu­di­en­zeiten und Förde­rungs­höchstdauer grundsätzlich erfüllen können. Ein entsprechender Gleich­heits­verstoß betrifft ferner alle anderen Studiengänge, in denen Mindest­stu­di­en­zeiten vorgeschrieben sind und eine Förde­rungs­höchstdauer gilt, die um weniger als vier Monate über der Mindest­stu­di­enzeit liegt. Die vom Gesetzgeber zu treffende Neuregelung muss rückwirkend unabhängig vom Zeitpunkt des Studi­e­n­ab­schlusses alle noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungs- und Gerichts­ver­fahren erfassen, die die Gewährung eines großen Teilerlasses zum Gegenstand haben und einen Studiengang betreffen, in dem wegen divergierender Rechts­vor­schriften zu Mindest­stu­di­en­zeiten und zur Förde­rungs­höchstdauer die Voraussetzungen des § 18 b Abs. 3 Satz 1 BAföG von vornherein nicht erfüllbar waren.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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