15.11.2024
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Dokument-Nr. 22564

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Bundesverfassungsgericht Beschluss23.03.2016

Anordnung einer Betreuung setzt vorherige persönliche Anhörung vorausUnterbleiben der persönlichen Anhörung begründet Rechts­wid­rigkeit der Anordnung der Betreuung

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass eine Betreuung mit einem tiefen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeits­recht verbunden ist und daher eine persönliche Anhörung durch das Betreu­ungs­gericht grundsätzlich unverzichtbar ist. Das Gericht hob mit seiner Entscheidung erneut die große Bedeutung der persönlichen richterlichen Anhörung im Betreu­ungs­ver­fahren erneut hervor und verwies darauf, dass die Anordnung einer Betreuung ohne diese Anhörung nicht nur das Recht auf rechtliches Gehör verletzt, sondern auch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeits­rechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG darstellt.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Nachdem die Beschwer­de­führerin im Dezember 2010 im Wege der einstweiligen Anordnung unter vorläufige Betreuung gestellt worden war, beantragte der Betreuer im Juni 2011 beim Amtsgericht eine Verlängerung der einstweiligen Betreuung um sechs Monate. Mit Beschluss vom selben Tag verlängerte das Amtsgericht die Betreuung, ohne die Beschwer­de­führerin zuvor anzuhören. Auf erneuten Antrag des Betreuers verlängerte das Amtsgericht im August 2011 die vorläufige Betreuung bis zum 31. Oktober 2011, abermals ohne die Beschwer­de­führerin vorher anzuhören. Mit Ablauf des 31. Oktober 2011 endete die einstweilige Betreuung durch Zeitablauf.

Beschwer­de­führerin rügt Verletzung eigener Rechte durch Verlängerung der Betreuung ohne vorherige Anhörung

Die Beschwer­de­führerin beantragte daraufhin beim Amtsgericht die Feststellung, dass der Beschluss über die Verlängerung der Betreuung aus August 2011 sie in ihren Rechten verletzt habe. Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab. Das Landgericht wies die Forts­et­zungs­fest­stel­lungs­be­schwerde zurück, nachdem es zuvor die Beschwer­de­führerin persönlich angehört hatte. Mit ihrer Verfas­sungs­be­schwerde rügt die Beschwer­de­führerin eine Verletzung der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG) und ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

BVerfG bejaht Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts über die Verlängerung der Betreuung die Beschwer­de­führerin in ihrem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) und in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Das Recht auf freie und selbstbestimmte Entfaltung der Persönlichkeit sichert jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebens­ge­staltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Die Anordnung einer Betreuung beeinträchtigt dieses Recht, sich in eigen­ver­ant­wort­licher Gestaltung des eigenen Schicksals frei zu entfalten, denn sie weist Dritten zumindest eine rechtliche und tatsächliche Mitver­fü­gungs­gewalt bei Entscheidungen im Leben der Betroffenen zu.

Persönliche Anhörung des Betreffenden grundsätzlich unverzichtbar

Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn das zuständige Betreu­ungs­gericht nach angemessener Aufklärung des Sachverhalts davon ausgehen darf, dass die Voraussetzungen für die Einrichtung oder Verlängerung einer Betreuung tatsächlich gegeben sind. Zu den zentralen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen gehört daher die Beachtung des Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Angesichts der mit einer Betreuung möglicherweise verbundenen tiefen Eingriffe in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht ist eine Anhörung in Form einer persönlichen Anhörung im Angesicht der Betreffenden grundsätzlich unverzichtbar. Die persönliche Anhörung darf nur im Eilfall bei Gefahr im Verzug vorläufig unterbleiben, ist dann aber unverzüglich nachzuholen.

Verletzung des Persön­lich­keits­rechts wird nicht durch spätere Anhörung rückwirkend geheilt

Aufgrund der engen Verbindung zwischen dem für das Betreu­ungs­ver­fahren als Recht auf persönliche Anhörung ausgestalteten Gehörsrecht und dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht liegt in der Anordnung einer Betreuung ohne diese Anhörung nicht nur eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern zugleich eine Verletzung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts. Durch eine spätere Anhörung kommt eine Heilung damit nicht rückwirkend, sondern nur in Blick auf die Zukunft in Betracht.

Beschwer­de­führerin wurde vom Amtsgericht zu keinem Zeitpunkt persönlich angehört

Das Amtsgericht hat demgegenüber die Beschwer­de­führerin zu keinem Zeitpunkt persönlich angehört. Die vorliegend angegriffene erneute Verlängerung der Betreuung wurde vielmehr - ebenso wie schon zuvor die Entscheidung über die erste Verlängerung - zunächst angeordnet, ohne die Beschwer­de­führerin auch nur in Kenntnis zu setzen. Auch im Weiteren fehlte es an einer persönlichen Anhörung. Ein Verzicht auf eine Anhörung durch die Beschwer­de­führerin kann weder tatsächlich hergeleitet werden noch ist dieser einfach­rechtlich begründbar.

Nachträgliche Anhörung kann unterbliebene Anhörung durch das Betreu­ungs­gericht nicht rückwirkend heilen

Die Gehörs­ver­let­zungen konnten auch nicht im Zuge des Verfahrens über die Forts­et­zungs­fest­stel­lungs­be­schwerde geheilt werden. Das Unterbleiben der persönlichen Anhörung begründet die Rechts­wid­rigkeit der Anordnung der Betreuung. Die nachträgliche Anhörung durch das Beschwer­de­gericht kann das Unterbleiben der Anhörung durch das Betreu­ungs­gericht nicht rückwirkend heilen.

Entscheidung des Landgerichts verletzt Beschwer­de­führerin in Anspruch auf effektiven Rechtsschutz

Der Beschluss des Landgerichts, der ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Gehörs­ver­letzung durch das Amtsgericht verneint, verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG gebietet den Rechts­mit­tel­ge­richten, ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv zu machen. Zwar ist es mit diesem Gebot vereinbar, den Rechtsschutz davon abhängig zu machen, dass ein Rechts­schut­z­in­teresse besteht. In Fällen tiefgreifender Grund­recht­s­ein­griffe kann das Rechts­schut­z­in­teresse jedoch auch dann bejaht werden, wenn die direkte Belastung durch Erledigung des Hoheitsakts entfallen ist, ohne dass die betroffene Person zuvor effektiven Rechtsschutz erlangen konnte. Der Beschluss vom 3. Mai 2012, in dem das Landgericht ein Forts­et­zungs­fest­stel­lungs­in­teresse der Beschwer­de­führerin verneint, verfehlt diese Anforderungen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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