18.10.2024
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Dokument-Nr. 32359

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Bundesverfassungsgericht Beschluss16.09.2022

Erfolglose Verfassungs­beschwerde von Eltern gegen Sorgerechts­entziehung wegen des Verdachts der Kindes­miss­handlungVerdacht auf Misshandlung eines Kindes kann Sorge­rechts­entzug rechtfertigen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde von Eltern nicht zur Entscheidung angenommen, denen wegen des Verdachts erheblicher Misshandlungen ihres zu den Vorfa­ll­zeit­punkten nur wenige Monate alten Kindes weite Teile des Sorgerechts entzogen wurden. Das als Beschwer­de­gericht zuständige Oberlan­des­gericht hat sich nach Einholung mehrerer medizinischer Gutachten und weiterer ärztlicher Stellungnahmen auf der Grundlage einer ausführlichen Beweiswürdigung die Überzeugung verschafft, dass sowohl der bei dem Kind festgestellte Spiralbruch eines Oberschenkels als auch der im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdi­men­si­o­nierte Gehirnschädel auf körperlichen Misshandlungen im elterlichen Haushalt und nicht auf einem Unfallgeschehen oder einer Erkrankung des Kindes beruhen. Aus den in der Vergangenheit zugefügten Misshandlungen leitete das Oberlan­des­gericht ab, dass das Kindeswohl im elterlichen Haushalt auch zukünftig erheblich gefährdet sein werde und entzog deshalb den Eltern insbesondere das Aufenthalts­bestimmungs­recht mit einer Folge einer Fremd­un­ter­bringung des Kindes.

Die Beschwer­de­füh­renden sind die miteinander verheirateten Eltern ihres am 29. August 2017 geborenen Kindes. Im September 2017 kam es in ihrem Haushalt zu einem nicht genau aufklärbaren Vorfall, aufgrund dessen das Kind einen Spiralbruch des rechten Oberschenkels erlitt, der operativ versorgt werden musste. Die Mutter rief deshalb einen Rettungswagen, der das Kind in ein Krankenhaus brachte. Dort wurden der Oberschen­kelbruch sowie drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten. Nachdem zunächst von sorge­recht­lichen Maßnahmen abgesehen worden war, wurde im November 2017 bei einer Untersuchung des Kindes festgestellt, dass der Gehirnschädel im Verhältnis zum Gesichtsschädel überdimensional war (Macrocephalie) und dass die Fontanelle vorgewölbt und gespannt war. Der Kopfumfang war bis dahin fortlaufend gemessen worden. Die Ärzte vermuteten ein Schütteltrauma und eine Misshandlung des Kindes durch die Beschwer­de­füh­renden. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern in Obhut nahm. Auch nach einer Untersuchung mittels Ultraschall und Magne­tre­so­nanz­to­mo­graphie (MRT) nahmen die Ärzte ein Schütteltrauma und die Einlagerung von Blut im Kopfbereich des Kindes an. Die Beschwer­de­füh­renden erklärten, sich keinerlei Handlungen bewusst zu sein, die zu einem Schütteltrauma hätten führen können.

Sorgerecht wegen Verdachts auf Kindes­miss­handlung weitgehend entzogen

Das Amtsgericht hatte daraufhin den Eltern weite Teil des Sorgerecht, insbesondere das Aufent­halts­be­stim­mungsrecht, entzogen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlan­des­gericht zurück. Nach seiner Prognose würde es für den Fall der Rückkehr des Kindes zu den Eltern mit hoher Wahrschein­lichkeit in überschaubarer Zeit aufgrund eines Erzie­hungs­ver­sagens eines Elternteils oder beider Elternteile zu einer erheblichen Schädigung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes kommen. Die Prognose beruhe darauf, dass innerhalb der ersten drei Lebensmonate des Kindes zwei separate erhebliche Verletzungen entstanden seien, die beide Anlass für Rückschlüsse auf für die Zukunft relevante Einschränkungen der Erzie­hungs­fä­higkeit der Eltern gäben. Der Vater habe im September 2017 aufgrund groben Erzie­hungs­ver­sagens den rechten Oberschenkel des Kindes mit massiver Gewalt verdreht und gebrochen. Zudem sei es zwischen Oktober und November 2017 zu einer Einblutung zwischen harter und weicher Hirnhaut und einem Subduralhämatom gekommen. Das ursächliche Ereignis sei entweder eine massive zielgerichtete gewalttätige Einwirkung eines der Elternteile auf den Körper des Kindes oder zumindest ein Sturz des Kindes aus einer Höhe von mindestens 90 cm mit Aufprallen auf dem Kopf, den die Eltern jedenfalls bemerkt hätten, ohne die erforderliche medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auf welche Beweismittel und sonstigen Umstände das Oberlan­des­gericht seine Überzeugung von den vorgenannten Vorfällen stützt, hat es im von den die Verfas­sungs­be­schwerde führenden Eltern angegriffenen Beschluss ausführlich dargelegt. Die Eltern sahen sich dadurch vor allem in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt.

BVerfG verneint Verletzung des Elternrechts

Das BVerfG hat die Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Begründung der Verfas­sungs­be­schwerde zeigt die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts der Beschwer­de­füh­renden aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf. Das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Eine solche Gefährdung des Kindes ist dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Ob eine Trennung des Kindes von der Familie verfas­sungs­rechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfas­sungs­rechtlich geboten ist, hängt danach regelmäßig von einer Gefah­ren­prognose ab. Dem muss die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens Rechnung tragen. Das gerichtliche Verfahren muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrschein­lichkeit des Schaden­s­ein­tritts zu erlangen. Bei dieser Prognose, ob eine solche erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beein­träch­tigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beein­träch­tigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrschein­lichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann, und desto weniger belastbar muss die Tatsa­chen­grundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohl geschlossen wird. Aus der Begründung der Verfas­sungs­be­schwerde und den vorgelegten Unterlagen ergibt sich nicht, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts diesen Anforderungen nicht genügt. Insbesondere werden deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die zu einer Verletzung des Rechts der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG führen können, nicht aufgezeigt. Das Oberlan­des­gericht hat ohne erkennbare verfas­sungs­rechtlich relevante Fehler festgestellt, dass das Kind durch ein schweres Erzie­hungs­versagen und eine bewusst gesteuerte Handlung des Vaters im September 2017 einen Spiralbruch des Oberschenkels und dass es durch einen weiteren Vorfall zwischen Oktober und November 2017 ein Subduralhämatom erlitten hat. Die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts weisen keine deutlichen Fehler auf, aus denen eine Verletzung des Elternrechts der Beschwer­de­füh­renden folgen könnte.

Herangezogenes Beweismaß verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Das vom Oberlan­des­gericht hierbei herangezogene Beweismaß ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Es hat in Übereinstimmung mit der fachrechtlichen Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurückgegriffen und als Maß für den Beweis einen Grad von Gewissheit ausreichen lassen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Die hier vorzunehmende strenge verfas­sungs­rechtliche Prüfung der Sachver­halts­fest­stellung und -würdigung des Beschwer­de­ge­richts gebietet keinen höheren Grad der Gewissheit. Dies liefe auf die Notwendigkeit einer in jeder Hinsicht unumstößlichen Sicherheit hinaus, die im Ergebnis praktisch unerfüllbare Anforderungen an den Beweis stellte. Angesichts der drohenden erheblichen Schädigungen des Kindeswohls sind keine erhöhten Anforderungen an die richterliche Überzeugung im Rahmen der Beweiswürdigung zu stellen. Die verfas­sungs­rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung erstreckt sich auch im Fall einer nach Art. 6 Abs. 3 GG zu beurteilenden Trennung des Kindes von seinen Eltern trotz der intensiveren Nachprüfung durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht grundsätzlich nur darauf, ob die Feststellungen auf einer tragfähigen Grundlage beruhen und ob sie nachvollziehbar begründet sind. Ferner hat das Oberlan­des­gericht aufgrund der notwendigen Begehungsweise ohne erkennbare Rechtsfehler in der Beweiswürdigung festgestellt, dass der Vater zumindest in dem Bewusstsein gehandelt haben muss, dem Kind Schmerzen zuzufügen und es womöglich schwer zu verletzen, und es schließt einen bloßen ungeschickten Umgang mit dem Kind als Ursache der Verletzung nachvollziehbar aus. Es hat sich mit Hilfe der Behand­lungs­un­terlagen, der Berichte der behandelnden Ärzte und rechts­me­di­zi­nischer Sachver­stän­di­gen­gut­achten davon überzeugt, dass es sich bei der Verletzung um einen Spiralbruch des Oberschenkels handelt, dessen Entstehung sowohl eine Drehbewegung als auch eine starke Beugung des Oberschenkels und insbesondere eine massive Gewalt­ein­wirkung erfordert. Weiterhin schließt das Oberlan­des­gericht mit Hilfe der auf ihrer wissen­schaft­lichen Sachkunde beruhenden Ausführungen der rechts­me­di­zi­nischen Sachver­ständigen die von den Beschwer­de­füh­renden vorgebrachten alternativen Gesche­hens­a­bläufe wie eine Eigenbewegung des Kindes oder einen Sturz, nachdem das Kind aus den Armen gerutscht ist, in nicht zu beanstandender Weise aus. Entgegen der Behauptung der Eltern ist insoweit nicht erkennbar, dass die Ausführungen der Sachver­ständigen auf Vermutungen beruhen. Vielmehr stützen sich die Ausführungen ausweislich der Darstellung der Sachver­stän­di­gen­gut­achten auf die vorhandenen wissen­schaft­lichen Erkenntnisse über die notwendige Entste­hungsweise der Verletzung, aus der die Sachver­ständigen und ihnen folgend das Oberlan­des­gericht auf die dazu erforderlichen Vorgänge schließen. Ebenso stellt das Oberlan­des­gericht ohne erkennbare Fehler fest, dass das Kind durch einen weiteren Vorfall zwischen Oktober und November 2017 ein Subduralhämatom erlitten hat und dass mindestens ein Elternteil das Verlet­zungs­ge­schehen zumindest mitbekommen haben muss. Weder die Feststellung, dass das Kind ein Subduralhämatom erlitten hat noch die Feststellung, dass diese Verletzung im vorgenannten Zeitraum erfolgt ist und dass sie durch ein Geschehen entstanden sein muss, das zumindest ein Elternteil bemerkt hat, ist verfas­sungs­rechtlich zu beanstanden.

Fehlende vollständige Aufklärung steht Annahme der Kindes­wohl­ge­fährdung nicht entgegen

Das Oberlan­des­gericht hat in verfas­sungs­rechtlich unbedenklicher Weise festgestellt, dass das Kind ein Subduralhämatom erlitten hat. Es hat nachvollziehbar und unter Bezugnahme auf die verschiedenen medizinischen Sachver­stän­di­gen­gut­achten dargelegt, dass bei einer MRT-Untersuchung im November 2017 ein subdurales Hygrom erkannt worden sei. Zwar hat die radiologische Sachverständige insoweit erklärt, dass aufgrund einer rein radiologischen Beurteilung nicht auf ein Subduralhämatom geschlossen werden könne, weil lediglich eine Ansammlung einer anderen Flüssigkeit als Hirnflüssigkeit radiologisch festzustellen sei. Entgegen der Ansicht der Eltern stützt das Oberlan­des­gericht seine Feststellung aber nicht alleine hierauf, sondern insbesondere auf die Ausführungen der rechts­me­di­zi­nischen Sachver­ständigen Dr. B. Aufgrund dieser Ausführungen hat das Oberlan­des­gericht sämtliche anderen möglichen Ursachen des subduralen Hygroms als eine vorangegangene Subduralblutung ausgeschlossen. Es hat ausführlich dargelegt, warum es eine Stoff­wech­se­l­er­krankung als mögliche Ursache dieser Flüssig­keits­an­sammlung ausschließt. Nicht zu beanstanden ist insoweit, dass das Oberlan­des­gericht auf eine aufwändige, nur durch ein Labor im Ausland mögliche Untersuchung zum vollständigen Ausschluss dieser Krankheit verzichtet hat, nachdem sonstige typische Symptome dieser Krankheit nicht erkennbar sind, sowohl ein Neuge­bo­re­nen­s­creening als auch eine moleku­la­r­ge­ne­tische Untersuchung keine Hinweise auf das Vorliegen dieser Krankheit ergeben haben und die Sachverständige Dr. B. unter Bewertung aller Faktoren das Vorliegen dieser Krankheit als medizinisch ausgeschlossen angesehen hat. Mit den hier maßgeblichen strengen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Feststellung und Würdigung ist es vereinbar, dass das Oberlan­des­gericht sich nicht veranlasst gesehen hat, einem behaupteten alternativen Ursachen­zu­sam­menhang nachzugehen, für dessen Vorliegen die sonstigen beanstan­dungsfrei gewonnenen Bewei­s­er­gebnisse keine konkreten Anhaltspunkte ergeben haben. Auch die Feststellung, dass die Subduralblutung wenn nicht durch eine Misshandlung des Kindes durch starkes Schütteln zumindest durch einen schweren Unfall, insbesondere durch ein Sturzereignis aus einer Höhe von mindestens 90 cm, verursacht wurde, ist nachvollziehbar begründet und beruht auf einer hinreichenden Grundlage. Insofern hat das Oberlan­des­gericht mit Hilfe der medizinischen Sachver­ständigen die möglichen Verlet­zungs­ur­sachen überzeugend auf diese Möglichkeiten eingegrenzt. Angesichts dieses Hergangs der Verletzungen ist auch die Schluss­fol­gerung überzeugend, dass mindestens ein Elternteil das Geschehen zumindest mitbekommen hat, ohne medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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