18.10.2024
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Sie sehen eine Szene aus einem Krankenhaus, speziell mit einem OP-Saal und einem Arzt im Vordergrund.

Dokument-Nr. 33335

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Bundesverfassungsgericht Beschluss25.09.2023

Verfassungs­beschwerde gegen die Ablehnung der Kostenübernahme für eine "Off-Label-Therapie" durch die Krankenkasse erfolglosKrankenkasse muss experimentelle Therapie nicht bezahlen

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, mit der sich der gesetzlich kranken­ver­si­cherte, schwerkranke Beschwer­de­führer gegen die fachgerichtlich bestätigte Ablehnung der Kostenübernahme für eine experimentelle Therapie durch seine Krankenkasse wendet. Damit wird der daneben gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Bei dem 2020 geborenen Beschwer­de­führer wurde 2022 die Krankheit GM2-Gangliosidose/Morbus Tay-Sachs (infantiler bis spät-infantiler Phänotyp) diagnostiziert. Hierbei handelt es sich um eine seltene angeborene Stoff­wech­se­l­er­krankung, die durch eine progrediente Neuro­de­ge­ne­ration mit zunehmendem Verlust erworbener kognitiver und motorischer Fähigkeiten, schwersten Behinderungen und dramatisch verkürzter Lebenserwartung gekennzeichnet ist. Eine anerkannte kausale Therapie steht nicht zur Verfügung. Seit dem Frühjahr 2022 erhält der Beschwer­de­führer eine Off-Label-Therapie mit dem Arzneimittel N-Acetyl-L-Leucin (Tanganil®). Im November 2022 beantragte der Beschwer­de­führer bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Therapie mit dem Arzneistoff Miglustat. In der beigefügten Stellungnahme der behandelnden Kinderärztin hieß es unter anderem, Miglustat führe bei der Behandlung anderer neuro­de­ge­ne­rativer Erkrankungen zu einer Stabilisierung des Krank­heits­zu­stands. Dies erhoffe man sich ebenfalls bei Patienten mit GM2-Gangliosidose.

Krankenkasse wies auch den Widerspruch nach Einholung weiterer Gutachten zurück

Die Krankenkasse lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes ab. Im anschließenden Wider­spruchs­ver­fahren legte der Beschwer­de­führer Stellungnahmen des Spezialisten Dr. (…) vor. Dieser verwies unter anderem auf Grund­la­gen­for­schung mit Versuchen an Mäusen, die gezeigt habe, dass Miglustat die GM2-Akkumulation senke. Bei genauer Betrachtung vorliegender Publikationen finde man zudem Indizien, dass Miglustat einen positiven Effekt haben könne. Wissen­schaftliche Studien der Phasen II und III lägen aufgrund der Seltenheit von GM2-Gangliosidosen nicht vor. Die Krankenkasse wies den Widerspruch nach Einholung weiterer Gutachten des Medizinischen Dienstes zurück, da sich keine Daten höherer Evidenz zeigten, die einen positiven klinisch relevanten Effekt von Miglustat auf den Erkran­kungs­verlauf der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung nahelegen würden. Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass beim Beschwer­de­führer im Oktober 2022 langsame motorische Fortschritte und keine Entwick­lungs­rück­schritte berichtet worden seien und dies auf die Tanganil-Medikation zurückgeführt worden sei.

LSG fordert Mindestmaß an wissen­schaft­licher Datengrundlage

Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes hatte der Beschwer­de­führer die vorläufige Versorgung mit Miglustat erwirkt. Den stattgebenden Beschluss des Sozialgerichts, auf dessen Grundlage im Mai 2023 die Therapie mit Miglustat eingeleitet wurde, hob das Landes­so­zi­al­gericht auf und lehnte den Eilantrag des Beschwer­de­führers ab. Jedenfalls seien die Voraussetzungen einer grund­recht­s­o­ri­en­tierten Auslegung der sozia­l­recht­lichen Leistungs­vor­schriften nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Auch bei sehr schweren Erkrankungen benötigten Behand­lungs­versuche ein Mindestmaß an wissen­schaft­licher Datengrundlage, die über den Tierversuch hinausgingen. Der Medizinische Dienst habe nachvollziehbar und detailliert ausgeführt, dass überhaupt keine Studien vorlägen, die einen positiven klinisch relevanten Effekt von Miglustat auf den Erkran­kungs­verlauf der infantilen Tay-Sachs-Erkrankung nahelegen könnten.

Grund­rechts­ver­letzung nicht dargetan

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da sie nicht den Darle­gungs­an­for­de­rungen, die aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgen, genügt. Insbesondere ist eine Grund­rechts­ver­letzung in Hinblick auf die Verneinung des Anspruchs auf die begehrte Versorgung mit Miglustat nicht dargetan. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt regelmäßig kein verfas­sungs­recht­licher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesund­heits­leis­tungen. In besonders gelagerten Fällen können die Gerichte zu einer grund­recht­s­o­ri­en­tierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Kranken­ver­si­che­rungs­rechts verpflichtet sein. Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebens­be­droh­lichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behand­lungs­methode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf versprechen. Rein experimentelle Behand­lungs­me­thoden, die nicht durch hinreichende Indizien gestützt sind, unterfallen hingegen nicht der Leistungs­pflicht der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung.

LSG durfte Mindestmaß an wissen­schaft­licher Datenlage fordern

Es ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landes­so­zi­al­gericht für die Annahme der nicht ganz fernliegenden Aussicht auf eine maßgebliche Wirksamkeit ein Mindestmaß an wissen­schaft­licher Datenlage zu den Erfolgs­aus­sichten des Thera­pie­an­satzes fordert. Dieses Kriterium erscheint grundsätzlich geeignet, die verfas­sungs­rechtlich gebotene Abgrenzung zwischen hinreichenden Indizien für eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krank­heits­verlauf einerseits und rein experimentellen Behandlungen andererseits vorzunehmen. Dies schließt die Behandlung von Erkrankungen, für die aufgrund ihrer Seltenheit keine Studiendaten vorliegen, nicht von vornherein von einem Leistungs­an­spruch aus. Denn ein Mindestmaß an wissen­schaft­licher Datenlage kann sich auch aus anderen Erkennt­nis­quellen als Studien ergeben. Ebenfalls ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landes­so­zi­al­gericht die Schilderung einer gesund­heit­lichen Stabilisierung seit Beginn der Therapie im Mai 2023 nicht als ausreichend angesehen hat. Etwas anderes drängte sich auch deshalb nicht auf, weil die diesbezüglichen Berichte sich nicht mit dem Umstand ausein­an­der­setzten, dass schon im Oktober 2022 unter der Therapie mit Tanganil das Ausbleiben von Entwick­lungs­rück­schritten sowie motorische Fortschritte berichtet worden waren. Insofern wäre in Abgrenzung zu dieser Therapie zu differenzieren gewesen, aufgrund welcher Anhaltspunkte die beobachtete Stabilisierung des Krank­heits­verlaufs gerade auf die Therapie mit Miglustat zurückzuführen sei.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online, (pm/ab)

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