15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.06.2010

BVerfG: Gerichtliche Untersagung einer Protestaktion gegen Schwan­ger­schafts­ab­brüche aufgehobenÄußerungen verletzen nicht Intim- noch in seiner Privatsphäre und sind vom Recht auf Meinung­s­äu­ßerung geschützt

Sieht jemand aus religiöser Überzeugung Abtreibungen für verwerflich an, kann ihm nicht verboten werden, vor einer Praxis eines Arztes, der Schwan­ger­schafts­ab­brüche vornimmt, Protestaktionen zu veranstalten und Flugblätter zu verteilen, die auf angebliche rechtswidrige Abtreibungen hinweisen. Äußerungen dieser Art sind wahre Tatsa­chen­be­haup­tungen, die den Arzt weder in seiner besonders geschützten Intim- noch in seiner Privatsphäre treffen, sondern lediglich Vorgänge aus seiner Sozialsphäre benennen. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Streitfalls hält aus religiöser Überzeugung Abtreibungen für verwerflich. Er pflegt Protestaktionen gegen Frauenärzte zu veranstalten, die Schwan­ger­schafts­ab­brüche vornehmen, indem er sich in der Nähe der jeweiligen Arztpraxis auf der Straße aufstellt, um durch Plakate und Flugblätter auf seine Haltung zur Abtrei­bungsfrage aufmerksam zu machen. Hierbei spricht er auch Passanten und Passantinnen, insbesondere solche, die er für mögliche Patientinnen des Frauenarztes hält, an und versucht sie zu einer Überprüfung ihrer Haltung zur Frage der Abtreibung zu bewegen. Mehrere dieser Aktionen waren bereits Gegenstand von Entscheidungen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts.

Sachverhalt

Im vorliegenden Fall hatte sich der Beschwer­de­führer an zwei Tagen vor der Praxis eines Münchener Frauenarztes aufgestellt, der nach den Feststellungen der Gerichte seinerzeit im Rahmen seiner Berufsausübung Schwan­ger­schafts­ab­brüche vornahm und hierauf auch im Internet hinwies. Dabei verteilte der Beschwer­de­führer Flugblätter, auf denen angegeben war, der Arzt führe „rechtswidrige Abtreibungen durch, die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt“. Auch im Internet machte der Beschwer­de­führer auf einer von ihm betriebenen Homepage den Arzt als Abtrei­bungs­me­diziner namhaft.

LG München: Demonstrationen stellen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persön­lich­keitsrecht des Arztes dar

Dieser nahm den Beschwer­de­führer daraufhin zivilrechtlich auf Unterlassung in Anspruch. Das Landgericht München I gab der Klage statt und verurteilte den Beschwer­de­führer, es zu unterlassen, öffentlich darauf hinzuweisen, dass der namentlich oder in anderer Weise identifizierbar bezeichnete Kläger Abtreibungen vornehme oder dass in seiner Praxis Abtreibungen vorgenommen würden, und des Weiteren es zu unterlassen, Patientinnen des Klägers oder Passanten in einem Umkreis von einem Kilometer zu dessen jeweiligen Praxisräumen anzusprechen und wörtlich oder sinngemäß auf in der Praxis vorgenommene Abtreibungen hinzuweisen. Mit seinen Demonstrationen habe der Beschwer­de­führer rechtswidrig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers eingegriffen mit der Folge, dass diesem der geltend gemachte Unter­las­sungs­an­spruch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB zustehe. Das Oberlan­des­gericht München wies die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwer­de­führers zurück.

BVerfG nimmt Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung an

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung angenommen und die Entscheidungen der Zivilgerichte aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen.

Äußerungen sind wahre Tatsa­chen­be­haup­tungen und verletzen Arzt weder in besonders geschützter Intim- noch in Privatsphäre

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die dem Beschwer­de­führer untersagten Äußerungen sind wahre Tatsa­chen­be­haup­tungen, die den Kläger weder in seiner besonders geschützten Intim- noch in seiner Privatsphäre treffen, sondern lediglich Vorgänge aus seiner Sozialsphäre benennen. Derartige Äußerungen müssen grundsätzlich hingenommen werden und überschreiten regelmäßig erst dann die Schwelle zur Persön­lich­keits­rechts­ver­letzung, wenn sie einen Persön­lich­keits­schaden befürchten lassen, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Eine derart schwerwiegende Beein­träch­tigung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts des Klägers zeigen die angegriffenen Entscheidungen aber nicht in verfas­sungs­rechtlich tragfähiger Weise auf. Namentlich lassen sie nicht erkennen, dass dem Kläger ein umfassender Verlust an sozialer Achtung drohe, wenn seine Bereitschaft zur Vornahme von Schwan­ger­schafts­ab­brüchen zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung gemacht wird. Hiergegen spricht, dass ihm nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwer­de­führers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger selbst ebenfalls öffentlich hinwies.

Darüber hinaus haben die Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwer­de­führer mit dem Thema der Schwan­ger­schafts­ab­brüche einen Gegenstand von wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht seines in die Abwägung einzustellenden Äußerungs­in­teresses vergrößert.

Bei Spießrutenlauf für die Patienten und Aufdrängen der Meinung kann verfas­sungs­rechtlich tragfähiges Verbot für bestimmte Formen der Protestaktion auferlegt werden

Soweit die Gerichte ergänzend auf die Auswirkungen verwiesen haben, die die streit­ge­gen­ständ­lichen Äußerungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis entfalten, können diese Erwägungen die angegriffenen Entscheidungen im vorliegenden Fall verfas­sungs­rechtlich gleichfalls nicht tragen. Allerdings ist die Erwägung, dass die Patientinnen, deren Weg in die Arztpraxis am Standort des Beschwer­de­führers vorbeiführt, sich durch dessen Aktionen gleichsam einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen könnten, ein gewichtiger Gesichtspunkt. Vor dem Hintergrund, dass Art. 5 Abs. 1 GG zwar das Äußern von Meinungen schützt, nicht aber Tätigkeiten, mit denen anderen eine Meinung - mit nötigenden Mitteln - aufgedrängt werden soll, ist es nicht ausgeschlossen, auf diesen Gesichtspunkt und die damit verbundene Einmischung in die rechtlich besonders geschützte Vertrau­ens­be­ziehung zwischen Arzt und Patientin im Einzelfall ein verfas­sungs­rechtlich tragfähiges Verbot von bestimmten Formen von Protestaktionen zu stützen. Dies rechtfertigt aber jedenfalls nicht ein so umfassendes Verbot, wie es hier in Frage steht. Auf mögliche, das Grundrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG betreffende Belästigungen von Patientinnen lässt sich weder die Untersagung stützen, in einem Umkreis von einem Kilometer Luftlinie von der Praxis des Klägers - ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen Standort handelt, den Patientinnen des Klägers auf dem Weg zur Praxis passieren müssen oder nicht - auf die dort durchgeführten Schwan­ger­schafts­ab­brüche hinzuweisen noch gar dies in sonstiger Weise öffentlich zu tun.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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