18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Urteil26.04.2022

Bayerisches Verfassungs­schutz­gesetz teilweise verfas­sungs­widrigZahlreiche Vorschriften müssen bis Juli 2023 geändert werden

Das Bundes­verfas­sungs­gericht hat entschieden, dass mehrere Vorschriften des Bayerischen Verfassungs­schutz­gesetzes (BayVSG) mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, weil die dem Bayerischen Landesamt für Verfas­sungs­schutz darin eingeräumten Befugnisse teilweise gegen das allgemeine Persönlichkeits­recht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Schutz der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung, teilweise in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informations­technischer Systeme, teilweise gegen das Fernmel­de­ge­heimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) und teilweise gegen die Unver­letz­lichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) verstoßen.

Das Bayerische Verfassungsschutzgesetz wurde 2016 neugefasst und dabei grundlegend neu strukturiert. Es unterscheidet zwischen allgemeinen Befugnissen der Infor­ma­ti­o­ns­ver­a­r­beitung in Art. 5 BayVSG, der speziellen Befugnis zur Erhebung von Informationen mit nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln in Art. 8 BayVSG und besonderen nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln, die in Art. 9 bis Art. 19a BayVSG speziell geregelt sind. Die Infor­ma­ti­o­ns­über­mittlung einschließlich der Übermittlung perso­nen­be­zogener Daten durch das Landesamt an andere Stellen ist allgemein in Art. 25 BayVSG geregelt. Spezielle Regeln für die Weiter­ver­a­r­beitung perso­nen­be­zogener Daten, die durch eine Wohnrau­m­über­wachung oder durch einen verdeckten Zugriff auf infor­ma­ti­o­ns­tech­nische Systeme erlangt wurden, finden sich in Art. 8b Abs. 2 BayVSG. Für die Weiter­ver­a­r­beitung perso­nen­be­zogener Daten, die durch besondere Auskunft­s­er­suchen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 sowie nach Art. 16 Abs. 1 BayVSG erlangt wurden, enthält Art. 8b Abs. 3 BayVSG spezielle Anforderungen. Die Beschwer­de­führer sind Mitglieder und zum Teil aktive Funktionsträger von Organisationen, die durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet und auch in dessen Verfas­sungs­schutz­be­richten erwähnt werden. Sie wenden sich gegen verschiedene im Bayerischen Verfas­sungs­schutz­gesetz geregelte Datenerhebungs- und Übermitt­lungs­be­fugnisse.

BVerfG: Verfas­sungs­be­schwerde ist teilweise unzulässig

Soweit sich die Verfas­sungs­be­schwerde gegen Überwa­chungs­be­fugnisse richtet, ist sie hinsichtlich der Angriffe gegen Art. 15 Abs. 2 („Auskunft bei Postdienst­leistern, Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­diensten und Telemedien“) und Art. 16 Abs. 1 BayVSG („weitere Auskunft­s­er­suchen“) unzulässig, weil die Beschwer­de­be­fugnis nicht hinreichend dargelegt wurde. Im Übrigen ist sie insoweit zulässig. Soweit Weiter­ver­a­r­beitungs- und Übermitt­lungs­be­fugnisse angegriffen sind, ist sie zum Teil ebenfalls unzulässig. Nicht zulässig angegriffen sind die durch Art. 25 Abs. 1a BayVSG erlaubten Übermittlungen an Stellen im europäischen Ausland, soweit an nicht öffentliche Stellen übermittelt wird, weil die Möglichkeit der Grund­rechts­ver­letzung nicht substantiiert dargelegt ist. Gleiches gilt für die Pflicht zur Übermittlung an Staats­an­walt­schaften, Polizeien und andere aus Art. 25 Abs. 2 Satz 2 BayVSG sowie für die in Art. 25 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BayVSG geregelte Befugnis zur Übermittlung an nicht öffentliche Stellen. Unzulässig sind auch die Rügen hinsichtlich der im Bayerischen Verfas­sungs­schutz­gesetz vorgesehenen Maßgaben zu Transparenz und Kontrolle. Das betrifft die Beanstandung von Art. 11 Abs. 2 Satz 3, Art. 17 Abs. 2 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 sowie Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 Nr. 1 und Nr. 2 BayVSG.

Soweit die Verfas­sungs­be­schwerde zulässig ist, ist sie weitgehend auch begründet. Aus den betroffenen Grundrechten folgen für das Handeln von Verfas­sungs­schutz­be­hörden teilweise andere Anforderungen als an entsprechendes Handeln von Polizeibehörden. So müssen auf der einen Seite Überwa­chungs­be­fugnisse einer Verfas­sungs­schutz­behörde grundsätzlich nicht an das Vorliegen einer Gefahr im polizeilichen Sinne gebunden werden, sondern kann der Gesetzgeber verfas­sungs­schutz­s­pe­zi­fische Eingriffs­schwellen vorsehen („Erfordernis eines verfas­sungs­schutz­s­pe­zi­fischen Aufklä­rungs­bedarfs“). Auf der anderen Seite setzt aber die Übermittlung perso­nen­be­zogener Daten und Informationen durch eine Verfas­sungs­schutz­behörde an andere Stellen - jedenfalls wenn die Daten mit nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln erhoben wurden - ausnahmslos voraus, dass die Übermittlung dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts dient und dass auch die Übermitt­lungs­schwelle dem Kriterium der hypothetischen Neuerhebung genügt („infor­ma­ti­o­nelles Trennungs­prinzip“).

Verfas­sungs­schutz­be­hörden nehmen nach dem geltenden Recht spezifische Aufgaben der Beobachtung und Vorfeld­auf­klärung zum Schutz überragend wichtiger Rechtgüter wahr und verfügen dabei nicht wie Polizeibehörden über operative Anschluss­be­fugnisse. Dies rechtfertigt es grundsätzlich, ihre Überwa­chungs­be­fugnisse an gegenüber polizeilichem Handeln modifizierte Eingriffs­schwellen zu binden. Welchen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen heimliche Überwa­chungs­be­fugnisse einer Verfas­sungs­schutz­behörde im Einzelnen unterliegen, folgt vor allem aus dem jeweils betroffenen Grundrecht und dem Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne. Verfas­sungs­rechtliche Anforderungen bestehen dabei hinsichtlich des zu schützenden Rechtsguts, der Eingriffs­schwelle - also des Anlasses der Überwachung - und der eingriffs­flan­kie­renden Ausgestaltung des Verfahrens.

Maßnahmen, die zu einer weitestgehenden Erfassung der Persönlichkeit führen können, unterliegen denselben Verhält­nis­mä­ßig­keits­an­for­de­rungen wie polizeiliche Überwa­chungs­maß­nahmen. Sonstige heimliche Überwa­chungs­be­fugnisse von Verfas­sungs­schutz­be­hörden müssen hingegen nicht an das Vorliegen einer Gefahr im polizeilichen Sinne geknüpft werden. Vorauszusetzen ist vielmehr ein hinreichender verfas­sungs­schutz­s­pe­zi­fischer Aufklä­rungs­bedarf. Dies verlangt, dass hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine aus Verfas­sungs­schutz­gründen beobach­tungs­be­dürftige Bestrebung vorliegen und dass die Überwa­chungs­maßnahme zu deren Aufklärung im Einzelfall geboten ist. Je höher das Eingriffs­gewicht der Überwa­chungs­maßnahme ist, umso dringender muss das Beobach­tungs­be­dürfnis sein. Der Gesetzgeber muss die Maßgaben zur jeweils erforderlichen Beobach­tungs­be­dürf­tigkeit hinreichend bestimmt und normenklar regeln. Besondere Anforderungen bestehen, wenn Personen in die Überwachung einbezogen werden, die nicht selbst in der Bestrebung oder für die Bestrebung tätig sind. Je nach Eingriff­sin­tensität der Maßnahme kann es zudem erforderlich sein, diese vor ihrer Durchführung einer Kontrolle durch eine unabhängige Stelle zu unterziehen.

Besondere Anforderungen stellt der Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne auch an die Übermitt­lungs­be­fugnisse einer Verfas­sungs­schutz­behörde. Die Übermittlung perso­nen­be­zogener Daten und Informationen durch eine Verfas­sungs­schutz­behörde an andere Stellen begründet einen erneuten Grundrechtseingriff. Jedenfalls wenn die Daten mit nachrich­ten­dienst­lichen Mitteln erhoben wurden, ist die Rechtfertigung des Übermitt­lungs­ein­griffs nach dem Kriterium der hypothetischen Neuerhebung zu beurteilen. Danach kommt es darauf an, ob der empfangenden Behörde zu dem jeweiligen Übermitt­lungszweck eine eigene Datenerhebung und Infor­ma­ti­o­ns­ge­winnung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln wie der vorangegangenen Überwachung durch die Verfas­sungs­schutz­behörde erlaubt werden dürfte. Eine Übermittlung setzt danach stets voraus, dass sie dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts dient. Die Anforderungen an die Übermitt­lungs­schwelle unterscheiden sich hingegen danach, an welche Stelle übermittelt wird.

Die Übermittlung an eine Gefah­re­n­ab­wehr­behörde setzt voraus, dass sie dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts dient, für das wenigstens eine hinreichend konkretisierte Gefahr besteht. Die Übermittlung an eine Straf­ver­fol­gungs­behörde kommt nur zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten in Betracht und setzt voraus, dass ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht vorliegt, für den konkrete und verdichtete Umstände als Tatsachenbasis vorhanden sind.

Auch die Übermittlung an eine sonstige Stelle ist nur zum Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsguts zulässig. Im Übrigen unterscheiden sich die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Übermitt­lungs­schwelle hier nach dem Eingriffs­gewicht, das auch davon abhängt, welche operativen Anschluss­be­fugnisse die empfangende Behörde hat. Eine Übermittlung an eine Verfas­sungs­schutz­behörde kommt daher schon in Betracht, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie die Information zur Aufklärung einer bestimmten, nachrich­ten­dienstlich beobach­tungs­be­dürftigen Aktion oder Gruppierung im Einzelfall benötigt. Für die Übermittlung ins Ausland gelten die gleichen Anforderungen wie für die inländische Übermittlung. Zusätzlich setzt sie einen daten­schutz­rechtlich angemessenen und mit elementaren Menschen­rechts­ge­währ­leis­tungen vereinbaren Umgang mit den übermittelten Informationen im Empfängerstaat und eine entsprechende Vergewisserung voraus.

Eine gesetzliche Ermächtigung für heimliche Überwa­chungs­maß­nahmen muss zudem hinreichend normenklar und bestimmt sein. Das Gebot der Normenklarheit setzt der Verwendung gesetzlicher Verwei­sungs­ketten Grenzen. Unüber­sichtliche Verwei­sungs­kaskaden sind mit den grund­recht­lichen Anforderungen nicht vereinbar. Die zulässig angegriffenen Befugnisse des Landesamts für Verfas­sungs­schutz sind daran gemessen nicht durchweg mit den Anforderungen des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne vereinbar.

Wohnrau­m­über­wachung, Online-Durchsuchung, Handy-Ortung

Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVSG, der das Landesamt zur akustischen und optischen Wohnrau­m­über­wachung ermächtigt, ist verfassungswidrig. Das Grundgesetz erlaubt in Art. 13 Abs. 4 GG akustische oder optische Wohnrau­m­über­wa­chungen nur zur Abwehr dringender Gefahren. Die Maßnahme muss dabei final auf die „Abwehr“ der Gefahr ausgerichtet sein. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVSG enthält eine solche Begrenzung nicht. Aus der verfas­sungs­recht­lichen Notwendigkeit, die Maßnahme an die Abwehr der Gefahr zu knüpfen, folgt zudem, dass einer Verfas­sungs­schutz­behörde die Befugnis zur Wohnrau­m­über­wachung nur subsidiär für den Fall eingeräumt werden darf, dass geeignete polizeiliche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut ansonsten nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Auch das ist in Art. 9 Abs. 1 BayVSG nicht geregelt.

Weiterhin genügen die in Art. 8a Abs. 1 BayVSG allgemein geregelten Vorschriften zum Kernbe­reichs­schutz den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an den Kernbe­reichs­schutz bei der Überwachung von Wohnraum nicht vollständig. Auf der Erhebungsebene fehlt es an der hier verfas­sungs­rechtlich gebotenen Vermu­tungs­re­gelung zugunsten des Priva­t­heits­schutzes, die ausdrücklich gesetzlich ausgestaltet werden muss. Auch auf der Auswer­tungsebene genügt Art. 8a Abs. 1 BayVSG den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht, weil er nicht sicherstellt, dass alle aus der Überwachung stammenden Informationen vor einer Kenntnisnahme durch die Behörde vollständig durch eine unabhängige Stelle auf ihre Kernbe­reichs­re­levanz hin gesichtet werden.

Art. 10 Abs. 1 BayVSG, der das Landesamt ermächtigt, mit technischen Mitteln Daten auf von den Betroffenen als eigene genutzten und ihrer Verfügung unterliegenden infor­ma­ti­o­ns­tech­nischen Systemen zu erheben (sogenannte Online-Durchsuchung), ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität infor­ma­ti­o­ns­tech­nischer Systeme als besonderer Ausprägung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar. Eine Online-Durchsuchung darf nur zur „Abwehr“ einer mindestens konkretisierten Gefahr im polizeilichen Sinne zugelassen werden. Maßnahmen nach Art. 10 Abs. 1 BayVSG sind aber infolge der Verweisung auf die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 BayVSG nicht auf diese Zwecksetzung begrenzt. Außerdem darf einer Verfas­sungs­schutz­behörde auch die Befugnis zur Online-Durchsuchung, wie die zur Wohnrau­m­über­wachung, lediglich subsidiär eingeräumt werden.

Zudem entspricht der in Art. 8a Abs. 1 BayVSG allgemein geregelte Kernbe­reichs­schutz nicht vollständig den speziellen Anforderungen, die bei der Online-Durchsuchung gelten. Auf der Erhebungsebene sind die in Art. 8a Abs. 1 Satz 1 und in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVSG enthaltenen Vorgaben zwar verfas­sungsgemäß. Unzureichend ist jedoch die Ausgestaltung des Kernbe­reichs­schutzes auf der Auswer­tungsebene, weil nicht gewährleistet ist, dass alle aus der Überwachung stammenden Informationen vor einer Kenntnisnahme durch die Behörde vollständig durch eine unabhängige Stelle auf ihre Kernbe­reichs­re­levanz hin gesichtet werden.

Art. 12 Abs. 1 BayVSG, der die Ortung von Mobil­fun­kend­geräten erlaubt, ist verfas­sungs­widrig. Die Norm enthält keine hinreichend bestimmten Eingriffs­vor­aus­set­zungen. Ihrem Wortlaut nach ist die Erstellung von Bewegungs­profilen der Betroffenen nicht ausgeschlossen. Dies wäre ein schwerer Grund­recht­s­eingriff. Will der Gesetzgeber dem Landesamt eine so weitgehende Befugnis zubilligen, muss er eine qualifizierte verfas­sungs­schutz­s­pe­zi­fische Eingriffs­schwelle vorsehen. Dabei wäre eine gesteigerte Beobach­tungs­be­dürf­tigkeit vorauszusetzen, und der Behörde müssten Anhaltspunkte dafür gegeben werden, wann von einer solchen auszugehen ist. Daran fehlt es. Weil die Befugnis zu einer länger andauernden Überwachung bis hin zur Erstellung eines umfänglichen Bewegungs­profils genutzt werden kann, bedarf es wegen des potentiell hohen Eingriffs­ge­wichts zudem einer unabhängigen Vorabkontrolle. Diese fehlt.

Auskunft über Verkehrsdaten aus Vorrats­da­ten­spei­cherung, verdeckte Mitarbeiter, Vertrauensleute und Observierungen

Art. 15 Abs. 3 BayVSG ermöglicht den Abruf von Daten, die von den Diens­tean­bietern nach Regeln zur Vorrats­da­ten­spei­cherung gespeichert wurden. Die Abrufregelung ist nicht mit dem Gebot der Normenklarheit vereinbar und verstößt gegen Art. 10 Abs. 1 GG, weil sie zum Datenabruf ermächtigt, ohne dass die betroffenen Diensteanbieter nach Bundesrecht zur Übermittlung dieser Daten an das Landesamt verpflichtet oder berechtigt wären.

Die Regelung zum Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern nach Art. 18 Abs. 1 BayVSG verstößt jedenfalls gegen das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung, weil keine hinreichenden Eingriffs­schwellen bestehen. Die hier zur Anwendung kommende allgemeine Regelung des Art. 5 Abs. 1 BayVSG, die insbesondere das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für verfas­sungs­feindliche Bestrebungen oder Tätigkeiten genügen lässt, reicht angesichts der potentiell schwerwiegenden Grund­recht­s­ein­griffe, zu denen Art. 18 Abs. 1 BayVSG ermächtigt, nicht aus. Spezifische Anforderungen, etwa zur zulässigen Dauer des Einsatzes oder zu einer im Verhältnis zur Dauer steigenden Gefährlichkeit der zu beobachtenden Bestrebung, enthält das Gesetz nicht. Zudem fehlt eine Begrenzung des zulässigen Adres­sa­ten­kreises für Fälle, in denen der Einsatz Verdeckter Mitarbeiter gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet ist; insbesondere sind einer gezielten Einbeziehung Unbeteiligter in solche Überwa­chungs­maß­nahmen des Verfas­sungs­schutzes von Verfassungs wegen enge Grenzen zu setzen. Verfas­sungs­widrig ist Art. 18 BayVSG auch insofern, als keine unabhängige Vorabkontrolle vorgesehen ist.

Auch Art. 19 BayVSG, der unter Verweisung auf die Voraussetzungen des Art. 18 BayVSG den Einsatz von Vertrau­ens­leuten regelt, verstößt jedenfalls gegen das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung. Beim Einsatz von Vertrau­ens­leuten gelten im Grundsatz die gleichen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Eingriffs­schwellen und den Adressatenkreis wie beim Einsatz Verdeckter Mitarbeiter. Diese sind nicht erfüllt. Auch hier fehlen eine hinreichende Eingriffs­schwelle, die Begrenzung des zulässigen Adres­sa­ten­kreises, wenn der Einsatz von Vertrau­ens­leuten gezielt gegen bestimmte Personen gerichtet ist, und eine unabhängige Vorabkontrolle.

Art. 19a Abs. 1 BayVSG, der dem Landesamt erlaubt, eine Person durchgehend länger als 48 Stunden oder an mehr als drei Tagen innerhalb einer Woche verdeckt auch mit technischen Mitteln planmäßig zu beobachten, verstößt gegen das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung. Die Regelung enthält keine hinreichenden Eingriffs­schwellen. Zwar sind Observationen nach Art. 19a Abs. 1 letzter Halbsatz BayVSG nur zulässig, wenn dies zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten mit „erheblicher Bedeutung“ erforderlich ist. Dass für besonders eingriff­sin­tensive langfristige Observationen zur Wahrung des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes ein besonders gesteigerter Beobach­tungs­bedarf bestehen muss und wonach sich dieser richtet, ist damit jedoch nicht hinreichend bestimmt vorgegeben. Zudem fehlt auch hier die verfas­sungs­rechtlich gebotene Regelung einer unabhängigen Vorabkontrolle.

Infor­ma­ti­o­ns­über­mittlung

Soweit Art. 25 BayVSG zulässig angegriffen wurde, verstoßen die darin geregelten Übermitt­lungs­be­fugnisse gegen das allgemeine Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung. Sie genügen nicht dem Kriterium der hypothetischen Neuerhebung.

Indem Art. 25 Abs. 1 Nr. 1 2. Alternative BayVSG eine Übermittlung an inländische Stellen „für Zwecke der öffentlichen Sicherheit“ ermöglicht, statuiert er keine hinreichende Übermitt­lungs­vor­aus­setzung. Denn damit ist die Übermittlung nicht auf den Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern beschränkt, sondern kann jeglicher Normverstoß Anlass für die Übermittlung sein. Darüber hinaus fehlt die verfas­sungs­rechtlich gebotene Übermitt­lungs­schwelle, weil lediglich vorausgesetzt wird, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Empfänger die Information benötigt. Das genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen hier nicht.

Art. 25 Abs. 1 Nr. 3 BayVSG erlaubt dem Landesamt unter bestimmten Voraussetzungen die Übermittlung von Informationen einschließlich perso­nen­be­zogener Daten an jegliche inländische öffentliche Stelle, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass der Empfänger die Informationen zur Erfüllung ihm zugewiesener Aufgaben benötigt, sofern er dabei auch zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beizutragen oder Gesichtspunkte der öffentlichen Sicherheit oder auswärtige Belange zu würdigen hat. Damit sind die zu schützenden Rechtsgüter nicht hinreichend konkret bezeichnet und ist keine hinreichende Übermitt­lungs­schwelle vorgegeben.

Der, soweit er Übermittlungen von Informationen durch das Landesamt an öffentliche Stellen im europäischen Ausland regelt, zulässig angegriffene Art. 25 Abs. 1a BayVSG, teilt die verfas­sungs­recht­lichen Defizite von Absatz 1, weil er auf diesen uneingeschränkt verweist. Art. 25 Abs. 2 Satz 1 BayVSG, der zur Übermittlung an Behörden mit eigenen Exeku­tiv­be­fug­nissen ermächtigt, ist, soweit er zulässig angegriffen ist, verfas­sungs­widrig. Satz 1 Nr. 2 regelt die Übermittlung zur Verhinderung oder sonstigen Verhütung oder zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung. Dies bleibt in allen drei Alternativen hinter den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen zurück. Das gilt auch für Satz 1 Nr. 3.

Auch Absatz 3 Satz 1 Nr. 2, der zur Übermittlung an ausländische öffentliche Stellen sowie an über- und zwischen­staatliche Stellen ermächtigt, genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Die Norm lässt tatsächliche Anhaltspunkte dafür genügen, dass die Übermittlung zur Wahrung erheblicher Sicher­heits­in­teressen des Empfängers erforderlich ist. Ein konkreter Ermitt­lungs­anlass im polizeilichen oder im nachrich­ten­dienst­lichen Sinn ist damit nicht bezeichnet.

Art. 8b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayVSG, der die Weiter­ver­a­r­beitung und Übermittlung von Daten aus Wohnrau­m­über­wachung und Online-Durchsuchung regelt, verstößt gegen Art. 13 GG und gegen das allgemeine Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und der Integrität infor­ma­ti­o­ns­tech­nischer Systeme. Er genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an eine dynamische Verweisung nicht. Dynamische Verweisungen auf durch einen anderen Normgeber erlassene Regelungen sind insbesondere in Bestimmungen, die zu Grund­recht­s­ein­griffen ermächtigen, verfas­sungs­rechtlich nur unter strengen Voraussetzungen zulässig. Sie können zulässig sein, wenn die in Bezug genommenen Regelungen ein eng umrissenes Feld betreffen und deren Inhalt im Wesentlichen bereits feststeht. Das ist bei der dynamischen Verweisung auf § 100 b Abs. 2 StPO jedoch nicht der Fall.

Art. 8b Abs. 3 BayVSG, der die Weiter­ver­a­r­beitung und Übermittlung von perso­nen­be­zogenen Daten aus Auskunft­s­er­suchen nach Art. 15 Abs. 2 und 3 und Art. 16 Abs. 1 BayVSG regelt, verstößt teilweise gegen das allgemeine Persön­lich­keitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der infor­ma­ti­o­nellen Selbst­be­stimmung und teilweise gegen Art. 10 Abs. 1 GG. Art. 8b Abs. 3 BayVSG enthält selbst keine Regelung dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen die aus einer Abfrage erlangten Daten weiterverwendet und übermittelt werden dürfen, sondern verweist vollständig auf eine entsprechende Anwendung des § 4 G 10. Auch diese dynamische Verweisung auf Regelungen eines anderen Normgebers ist unzulässig, weil die in Bezug genommenen Bestimmungen kein eng umrissenes Feld betreffen, so dass deren Inhalt im Wesentlichen bereits feststünde. Der Verweis verstößt zudem gegen das Gebot der Normenklarheit, weil die hier enthaltenen Verweisungen das verfas­sungs­rechtlich zulässige Maß vielgliedriger Verwei­sungs­ketten überschreiten.

Gesetzgeber muss bis Ende Juli 2023 nachbessern

Im Übrigen sind die beanstandeten Vorschriften lediglich mit der Verfassung unvereinbar und gelten vorübergehend - mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch nach einschränkenden Maßgaben - bis zum Ablauf des 31. Juli 2023 fort.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/cc)

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