15.11.2024
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Dokument-Nr. 29036

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Beschluss07.07.2020Bundesverfassungsgericht1 BvR 146/17
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Bundesverfassungsgericht Beschluss07.07.2020

BVerfG: Zur Zulässigkeit des Vorhaltens alter Verdachts­berich­terstattung in einem Online-PressearchivPresseartikel in Online-Archiven muss nur in Ausnahmefällen nachträglich gelöscht werden

Das BVerfG hat entschieden, dass die ursprüngliche Zulässigkeit einer Berich­t­er­stattung ein entscheidender Faktor für die Zulässigkeit einer über das Internet zugänglichen Archivierung ist und im Normalfall eine unveränderte öffentliche Bereitstellung auch nach langer Zeit noch rechtfertigt. Für die Verdachts­berich­terstattung entsprechen dem besonders gesteigerte Anforderungen an die ursprüngliche Veröf­fent­lichung solcher Berichte, die deren öffentliches Vorhalten im Regelfall auch langfristig tragen. In Ausnahmefällen kann das Vorhalten einer ursprünglich berechtigten Verdachts­berich­terstattung durch Zeitablauf oder durch zwischen­zeitlich hinzugekommene Umstände eine die betroffene Person derart belastende Dimension gewinnen, dass daraus Löschungs-, Auslistungs- oder Nachtrags­ansprüche erwachsen

Der Beschwer­de­führer war zum Zeitpunkt des beanstandeten Presseberichts Unter­neh­mens­berater und unterstützte verschiedene Unternehmen bei der Erschließung ausländischer Märkte. In diesem Rahmen erhielt er für Beratungs­leis­tungen unter anderem von der Firma Siemens Zahlungen im achtstelligen Bereich. 2007 erschien in der Europaausgabe einer englisch­spra­chigen Tageszeitung im Zuge damals öffentlich gewordener Korrup­ti­o­ns­er­mitt­lungen gegen leitende Mitarbeiter der Firma Siemens ein Artikel, der hauptsächlich am Beispiel des namentlich genannten Beschwer­de­führers über die Rolle von Beratern bei der Beschaffung von Indus­trie­auf­trägen im Ausland berichtete. Seit einigen Jahren komme weltweit der Verteilung von Beste­chungs­geldern über schwer zu durchschauende Kanäle durch Berater eine gesteigerte Bedeutung zu. Unter anderem berichtet der Artikel von den Beschwer­de­führer belastenden Aussagen leitender Siemens-Mitarbeiter, gegen die zu dem Zeitpunkt strafrechtlich ermittelt wurde. Daneben erwähnt der Bericht, dass Siemens zu den Vorwürfen nicht Stellung genommen habe, dass die Staats­an­walt­schaft erklärt habe, dass der Beschwer­de­führer weder befragt noch beschuldigt worden sei, dass er selbst die Vorwürfe abstreite und geltend mache, dass er mehrfach erfolglos Korrup­ti­o­nsfälle intern angezeigt habe und dass er einem etwaigen Anruf der Staats­an­walt­schaft gelassen entgegenblicke. Ein förmliches Ermitt­lungs­ver­fahren gegen den Beschwer­de­führer wurde nicht eröffnet. Der Artikel ist in teilweise abgeänderter Form infolge teilstatt­ge­bender Gericht­s­ent­schei­dungen weiterhin online verfügbar.

Zivilgerichte wiesen das Unter­las­sungs­be­gehren ab

Hinsichtlich des Verdachts, der Beschwer­de­führer habe für die Firma Siemens Beste­chungs­gelder in großem Umfang an potentielle Kunden gezahlt, wiesen die Zivilgerichte das Unter­las­sungs­be­gehren des Beschwer­de­führers ab. Es habe sich zum Zeitpunkt der Veröf­fent­lichung um eine zulässige Verdachts­be­rich­t­er­stattung gehandelt. Auch das weitere Bereithalten des Berichts im Online-Archiv greife nicht rechtswidrig in das Persön­lich­keitsrecht des Beschwer­de­führers ein. Diese Beein­träch­tigung sei in Anbetracht der Aufgabe der Presse, auch indivi­du­a­li­sierend über Ereignisse des Zeitgeschehens zu berichten, und des erheblichen öffentlichen Interesses an Beste­chungs­vor­würfen in Millionenhöhe gerechtfertigt. Der Antrag auf Ergänzung eines klarstellenden Nachtrags über die Nichteinleitung eines Ermitt­lungs­ver­fahrens sei prozessual verspätet und im Übrigen unbegründet.

BVerfG: Löschung von ursprünglich zulässigen Presseberichten in Onlinearchiven nur in Ausnahmefällen möglich

Das BVerfG hat unter Verweis auf die Entscheidung zum „Recht auf Vergessen“ wiederholt, dass in Fällen, in denen das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Pressearchiven, in Rede steht, dessen Zulässigkeit anhand einer neuerlichen Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Unter­las­sungs­be­gehrens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen ist. Dabei ist die ursprüngliche Zulässigkeit eines Berichts allerdings ein wesentlicher Faktor, der ein gesteigertes berechtigtes Interesse von Presseorganen begründet, ihn ohne Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft verfügbar zu halten. Denn in diesem Fall hat die Presse bei der Veröf­fent­lichung bereits die für sie geltenden Maßgaben beachtet und kann daher im Grundsatz verlangen, sich nicht erneut mit dem Bericht und seinem Gegenstand befassen zu müssen. Zumutbar sind einschränkende Maßnahmen gegenüber einer unveränderten Bereitstellung von ursprünglich zulässigen Presseberichten in Onlinearchiven daher nur in Ausnahmefällen, wenn deren Folgen für die Betroffenen besonders gravierend sind.

Löschungs­be­gehren einer Verdachts­be­rich­t­er­stattung nur in den Grenzen zulässig

Handelt es sich bei dem Gegenstand des Löschungs­be­gehrens um eine Verdachts­be­rich­t­er­stattung, ist in Rechnung zu stellen, dass es zu den Aufgaben der Presse gehört, investigativ in den Grenzen des Zulässigen auch indivi­du­a­li­sierend und identifizierend über Verdächtigungen von hohem öffentlichen Interesse zu berichten. Möglichkeiten, Wahrschein­lich­keiten und Verdachtslagen gehören zur sozialen Wirklichkeit, die aufzubereiten und über die zu informieren Merkmal, Freiheit und Aufgabe der Presse ist. Auch unerwiesene Verdächtigungen können von berechtigtem öffentlichem Interesse sein und hierauf gründende Wahrschein­lich­keits­wahr­neh­mungen langfristig individuelles, gesell­schaft­liches und politisches Handeln beeinflussen. Gerade der mangelnden Aufklärbarkeit von Verdachtslagen kann dabei etwa wenn es um strukturelle Grenzen von Aufklä­rungs­mög­lich­keiten geht öffentliche Bedeutung zukommen. Insoweit erübrigt sich ein Veröf­fent­li­chungs- und Bereit­hal­tungs­in­teresse der Presse nicht grundsätzlich schon durch die Einstellung oder Nichteinleitung eines Ermitt­lungs­ver­fahrens. Andererseits ist bei einer Verdachts­be­rich­t­er­stattung die Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts regelmäßig insoweit von erhöhtem Gewicht, als der Betroffene damit einem Verdacht ausgesetzt bleibt, der möglicherweise nicht den Tatsachen entspricht und der zwischen­zeitlich sogar ausgeräumt wurde. Betroffene können damit auf Dauer einer negativen Wertung ausgesetzt sein, die sie anders als bei unstrittig wahrhafter Tatsa­chen­be­rich­t­er­stattung womöglich nicht durch ihr eigenes Handeln zu verantworten haben. Auch kann das öffentliche Interesse an einem längerfristigen Vorhalten eines Berichts je nach Inhalt des Verdachts geringfügiger als bei feststehenden Tatsachen sein.

Ursprüngliche Zulässigkeit einer Verdachts­be­rich­t­er­stattung unterliegt strengen rechtlichen Maßstäben

Auch aus diesem Grund unterliegt die ursprüngliche Zulässigkeit einer Verdachts­be­rich­t­er­stattung strengen rechtlichen Maßstäben. So hat eine zulässige Verdachts­be­rich­t­er­stattung im Zeitpunkt ihrer Veröf­fent­lichung immer einen Vorgang von erheblichem Gewicht, also ein besonders gesteigertes Berich­t­er­stat­tungs­in­teresse, zur Voraussetzung. Daneben wird durch das Erfordernis einer Stellung­nah­memög­lichkeit und das Verbot vorver­ur­tei­lender Berich­t­er­stattung sichergestellt, dass die Betroffenen selbst zu Wort kommen und der Bericht nur den Eindruck eines noch nicht geklärten Verdachts vermittelt. Die Betroffenen sind also nicht in den Augen ihres sozialen Umfelds für alle Zukunft auf einen Umstand festgelegt, wie es bei einer dauerhaft vorgehaltenen Mitteilung von unstrittig wahrer Tatsa­chen­be­rich­t­er­stattung der Fall ist.

Bekanntgabe allein des Umstands einer Einstellung oder Nichtaufnahme straf­recht­licher Ermittlungen löst keinen Nachtrags­an­spruch aus

Bei der von den Fachgerichten geforderten Abwägung sind im Sinne praktischer Konkordanz auch vermittelnde Lösungen zu erwägen. Hierzu kann unter Umständen auch ein klarstellender Nachtrag über den Ausgang rechtlich formalisierter Verfahren wie etwa straf­recht­licher Ermittlungs- oder Haupt­sa­che­ver­fahren gehören, solange dies auf besondere Fälle begrenzt bleibt und der Presse nur eine sachlich-distanzierte Mitteilung geänderter Umstände abverlangt wird. Solche Nachtrags­ansprüche müssen allerdings die Freiheit der Presse, ihre Berich­t­er­stat­tungs­ge­gen­stände selbst zu wählen und nicht zu neuerlichen Nachforschungen und Bewertungen vergangener Berich­t­er­stat­tungs­ge­gen­stände verpflichtet zu werden, unangetastet lassen. Die Bekanntgabe allein des Umstands einer Einstellung oder Nichtaufnahme straf­recht­licher Ermittlungen kann einen Nachtrags­an­spruch nicht auslösen, weil dafür verschiedenste Gründe wie etwa Beweisnot oder staats­an­waltliche Priori­sie­rungs­ent­schei­dungen ausschlaggebend sein können, die den Verdacht der Sache nach weder entkräften noch ausräumen.

Artikel von besonders gesteigerter gesell­schaft­licher Bedeutung

Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen Maßstäben. Die Gerichte haben erkannt, dass die Zulässigkeit des weiteren Vorhaltens eines Presseberichts im Lauf der Zeit Veränderungen unterliegen kann und im Zeitpunkt des Unter­las­sungs­be­gehrens durch Abwägung der wider­strei­tenden grundrechtlich erheblichen Belange zu beurteilen ist. Auf dieser Grundlage sind sie zurecht davon ausgegangen, dass die ursprüngliche Zulässigkeit einer Veröf­fent­lichung ein entscheidender Faktor der Beurteilung ist. Auch davon abgesehen rechtfertigt die besonders gesteigerte gesell­schaftliche Bedeutung der in dem Artikel beschriebenen Vorgänge und des darin geäußerten Verdachts, den anlassgebenden Missstand an einem konkreten Beispiel fassbar und plastisch zu machen. Ebenfalls zutreffend haben die Gerichte berücksichtigt, dass der beanstandete Bericht bei einer Suche anhand des vollständigen Namens des Beschwer­de­führers nicht mit hoher Priorität kommuniziert wird. Es ist daher nicht erkennbar, dass Dritte bei einer unvor­ein­ge­nommenen Namenssuche im Internet in unzumutbarer Weise auf den Bericht gestoßen und der Beschwer­de­führer in seinem sozialen Umfeld in vergleichbar gravierender Weise auf die hier geäußerten Verdächtigungen festgelegt würde wie der Beschwer­de­führer in dem Verfahren „Recht auf Vergessen.

Kein Anspruch auf klarstellenden Nachtrag

Schließlich sind die Gerichte zurecht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf einen klarstellenden Nachtrag mangels einer klar feststellbaren zwischen­zeit­lichen Veränderung der Sachlage, etwa eines Freispruchs oder einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, nicht bestand. Aus dem vom Beschwer­de­führer vorgelegten Schreiben ergab sich keine objektiv und ohne eigene Recherchen feststellbare Veränderung der Sachlage, über die die Beklagte des Ausgangs­ver­fahrens in Gestalt des Nachtrags in sachlich-distanzierter Weise ohne Revidierung des ursprünglich zulässig geäußerten Verdachts hätte berichten müssen. Der Umstand allein, dass es nie zu einem straf­recht­lichen Ermitt­lungs­ver­fahren kam, reicht für eine Zuerkennung von Nachtrags­ansprüchen nicht aus. Andernfalls käme im Bereich strafrechtlich erheblicher Sachverhalte der Nichteröffnung staats­an­walt­licher Verfahren die Wirkung zu, das Vorhalten zulässiger Verdachts­be­rich­t­er­stattung regelmäßig auszuschließen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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