21.11.2024
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Dokument-Nr. 29043

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Bundesverfassungsgericht Beschluss27.07.2020

Verfassungs­beschwerde wegen Verletzung der prozessualen Waffen­gleichheit in einem lauterkeitsr­echtlichen Eilverfahren erfolglosGegenseite auch in lauterkeitsr­echtlichen Eilverfahren grundsätzlich anzuhören

Das Bundes­ver­fassungs­gericht hat entschieden, dass die im presse- und äußerungs­rechtlichen Eilverfahren geltenden grund­recht­lichen Anforderungen an die prozessuale Waffen­gleichheit auch für einstweilige Verfü­gungs­ver­fahren im Bereich des Lauter­keits­rechts (UWG) gilt und die Gegenseite in das gerichtliche Eilverfahren grundsätzlich einzubeziehen ist.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beschwer­de­führerin bietet Dienst­leis­tungen im Dentalbereich an und versendet an ihre Kunden insbesondere Produkte, mit denen diese zu Hause einen Abdruck sowie Fotos von ihrem Gebiss machen können, um daraus individuelle Schienen zur Zahnkorrektur zu erstellen. Die Antragstellerin des Ausgangs­ver­fahrens führte bei der Beschwer­de­führerin einen Testkauf eines solchen Abdrucksets durch, mahnte diese unter anderem wegen vorgeblich fehlender Kennzeichnung mit CE-Kennzeichen ab und nahm sie auf Unterlassung in Anspruch.

Beschwer­de­führerin wurde vor Erlass der angegriffenen Entscheidung nicht an dem gerichtlichen Verfahren beteilig

Die Gegnerin des Ausgangs­ver­fahrens stellte daraufhin Antrag auf Erlass einer Unterlassungsverfügung beim Landgericht. Das Gericht wies die Antragstellerin schriftlich auf Bedenken hinsichtlich der Antragsfassung und Glaub­haft­machung hin. Die Antragstellerin ergänzte daraufhin ihren Antrag und erwirkte den Erlass der angegriffenen einstweiligen Verfügung. Die Beschwer­de­führerin wurde vor Erlass der angegriffenen Entscheidung nicht an dem gerichtlichen Verfahren beteiligt. Die Beschwer­de­führerin erhob Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung und stellte Vollstre­ckungs­schutz­antrag. Den Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangs­voll­streckung wies das Landgericht zurück.

BVerfG hat die Verfas­sungs­be­schwerde trotz zweifacher Verstöße gegen die prozessuale Waffen­gleichheit nicht zur Entscheidung angenommen

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar liegen hier Verfah­rens­fehler vor. So ist ein Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen Waffen­gleichheit darin zu sehen, dass das Unter­las­sungs­be­gehren aus der Abmahnung und der nachfolgend gestellte Verfü­gungs­antrag nicht identisch sind. Nur bei wortlaut­gleicher Identität ist sichergestellt, dass der Antragsgegner auch hinreichend Gelegenheit hatte, sich zu dem vor Gericht geltend gemachten Vorbringen in gebotenem Umfang zu äußern. Die Anhörung der Beschwer­de­führerin wäre daher vor Erlass der einstweiligen Verfügung veranlasst gewesen. Zum anderen liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen Waffen­gleichheit in der Erteilung eines gerichtlichen Hinweises an die Antrag­stel­lerseite, ohne die Beschwer­de­führerin davon in Kenntnis zu setzen. Es ist verfas­sungs­rechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Deshalb sind auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitzuteilen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es bei Rechts­aus­künften in Hinweisform darum geht, einen Antrag nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgs­aus­sichten abzugeben.

Abweichungen von Abmahnung nur gering und nicht gravierend

Die aufgezeigten Verstöße begründen indes kein hinreichend gewichtiges Feststel­lungs­in­teresse. Die Abweichungen zwischen dem außer­ge­richtlich geltend gemachten Unter­las­sungs­ver­langen und dem ursprünglich gestellten Verfü­gungs­antrag sowie der nachgebesserten Antragsfassung stellen sich als gering und nicht gravierend dar. Nach der im Recht des unlauteren Wettbewerbs entwickelten „Kerntheorie“ umfasst der Schutz eines Unter­las­sungs­gebots nicht nur die Verlet­zungsfälle, die mit der verbotenen Form identisch sind, sondern auch gleichwertige Verletzungen, die den Verletzungskern unberührt lassen. Die Kerntheorie ist verfas­sungs­rechtlich im Grundsatz unbedenklich. Sie dient der effektiven Durchsetzung von Unter­las­sungs­ansprüchen. Sie wäre wesentlich erschwert, sofern der Unter­las­sungstitel nur in den Fällen als verletzt gälte, in denen die Verlet­zungs­handlung dem Wortlaut des Titels genau entspricht.

Erwide­rungs­schreiben auf außer­ge­richtliche Abmahnung muss auch kerngleiche Verstöße umfassen

Es ist dem Antragsgegner grundsätzlich zumutbar, im Erwide­rungs­schreiben auf eine außer­ge­richtliche Abmahnung auch zu kerngleichen, nicht-identischen Verstößen Stellung zu nehmen. Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo der gerichtliche Verfü­gungs­antrag den im Rahmen der außer­ge­richt­lichen Abmahnung geltend gemachten Streit­ge­genstand verlässt oder weitere Streit­ge­gen­stände neu einführt. Die Beschwer­de­führerin musste sich vorliegend jedoch aufgrund der außer­ge­richtlich gewählten Formulierung bewusst sein, umfassend auch zu kerngleichen Verstößen zu erwidern. Außerdem fehlt es an der Darlegung eines schweren Nachteils, der durch die Schaden­s­er­satz­pflicht nach § 945 ZPO nicht aufgefangen werden könnte. Dem Schutz des Antragsgegners im einstweiligen Verfü­gungs­ver­fahren wird durch die Schaden­s­er­satz­pflicht gemäß § 945 ZPO hinreichend Rechnung getragen. Kommt es infolge der Vollziehung zu Schäden beim Antragsgegner, sind diese vom Antragsteller verschul­den­su­n­ab­hängig zu ersetzen. Ein irreparabler Schaden der Beschwer­de­führerin ist nicht ersichtlich. Zudem stellt sich die Terminierung der Verhandlung über den Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung noch als ausreichend zeitnah dar, um eine zügige Verfah­rens­führung zu gewährleisten und der Beschwer­de­führerin eine umfassende Äußerung in der Sache zu ermöglichen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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