23.11.2024
23.11.2024  
Sie sehen das Schild des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Dokument-Nr. 31264

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss11.11.2021

Popsänger Xavier Naidoo durfte Antisemit genannt werden - Scharfe Kritik im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmenErfolgreiche Verfassungs­beschwerde gegen fachge­richtliche Verurteilung zur Unterlassung der Bezeichnung eines Sängers als Antise­mi­ten­Scharfe Kritik im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen

Das BVerfG hat Entscheidungen von Fachgerichten, denen eine zivilrechtliche Verurteilung der Beschwer­de­führerin zur Unterlassung einer Äußerung zugrunde lag, aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an die Fachgerichte zurückverwiesen.

Die Beschwer­de­führerin hielt als Fachreferentin im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwö­rungs­ideologie mit deutscher Spezifik“. Nach dem Vortrag äußerte die Beschwer­de­führerin auf eine Nachfrage, wie sie den Kläger des Ausgangs­ver­fahrens einstufe: „Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar. Der Kläger des Ausgangs­ver­fahrens ist ein bekannter deutscher Sänger. Im Jahr 2009 verfasste er unter anderem ein Lied, in dessen vierter Strophe es heißt: „Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist'n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Weiter heißt es in einem Liedtext aus dem Jahr 2017 auszugsweise: „Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steig­bü­gel­halter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“. Im Jahr 2014 hielt er eine Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte er sich dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung des Klägers des Ausgangs­ver­fahrens waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.

Vorinstanzen gaben Klage statt

Das Landgericht untersagte der Beschwer­de­führerin, wörtlich oder sinngemäß die streit­ge­gen­ständliche Behauptung aufzustellen oder zu verbreiten. Die dagegen eingelegte Berufung zum Oberlan­des­gericht blieb erfolglos. Die beanstandete Äußerung sei zwar eine Meinung­s­äu­ßerung, obwohl sie einen Tatsachenkern enthalte. Eine Gesamtabwägung ergebe aber, dass der Eingriff in die Ehre und das Persönlichkeitsrecht rechtswidrig gewesen sei. Die personale Würde des Klägers sei beeinträchtigt und es sei eine Prangerwirkung gegeben. Die Bezeichnung als „Antisemit“ sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff. Sie sei überdies mehrdeutig und reiche von einem weiten Begriffs­ver­ständnis, wonach jeder, der eine wie auch immer geartete negative Wahrnehmung von Juden habe, als Antisemit zu begreifen sei, bis zu einem engen Verständnis, wonach Antisemitismus gleichbedeutend mit Judenhass sei. Dem Werturteil der Beschwer­de­führerin liege außerdem ein tatsächlich unrichtiger Äußerungsgehalt zugrunde. Maßgeblich sei, ob die in den Werturteilen enthaltenen Tatsa­chen­be­haup­tungen zuträfen oder ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt seien. Die objektive Richtigkeit des tatsächlichen Äußerungs­gehalts ihrer Aussage sei aber nicht hinreichend belegt. Die Beschwer­de­führerin rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

Entscheidungen der Vorinstanzen verletzen Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht auf Meinungs­freiheit

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Die Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht auf Meinungs­freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Sie verkennen im Ergebnis die Voraussetzungen einer verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügenden Sinnermittlung, die vom Wortlaut der Äußerung ausgeht sowie Kontext und Begleitumstände berücksichtigt. Weiter verkennen sie im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit im öffentlichen Meinungskampf, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesell­schaft­liches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen gebraucht werden. Eine für die Klärung der Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts des Klägers des Ausgangs­ver­fahrens entscheidende konkrete Sinndeutung der Äußerung der Beschwer­de­führerin hat das Berufungs­gericht bereits nicht vorgenommen. Die Äußerung der Beschwer­de­führerin ist unzweideutig dahingehend zu verstehen, die Beschwer­de­führerin halte den Kläger des Ausgangs­ver­fahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Es bedurfte daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinung­s­äu­ße­rungen. Die Äußerung der Beschwer­de­führerin ist entgegen dem Berufungs­gericht nicht dahingehend zu verstehen, der Kläger des Ausgangs­ver­fahrens sei eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch natio­nal­so­zi­a­listisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinn sogar handlungsbereit sei. Diese Sinndeutung ist fernliegend.

Berufungs­gericht verkennt die Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit

Die Fachgerichte sind bei ihrer Abwägung zudem verfas­sungs­rechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen, es falle entschei­dungs­er­heblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist keine Tatsa­chen­be­hauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangs­ver­fahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an. Verfas­sungs­rechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungs­ge­richts, im Rahmen der Abwägung der wider­strei­tenden Rechts­po­si­tionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungs­gericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit, da die Beschwer­de­führerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Ausein­an­der­setzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert.

Scharfe Reaktionen im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen

Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Der Kläger des Ausgangs­ver­fahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit. Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwer­de­führerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungs­gericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss31264

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI