21.11.2024
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Dokument-Nr. 29135

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Beschluss30.08.2020Bundesverfassungsgericht1 BvQ 94/20
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Bundesverfassungsgericht Beschluss30.08.2020

Bundes­verfassungs­gericht lehnt Eilantrag gegen das Verbot einer Dauermahnwache in Berlin abProtestcamp gegen staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie

Anlässlich eines von der zuständigen Versamm­lungs­behörde verfügten Verbots einer in Berlin auf der Straße des 17. Juni für den Zeitraum zwischen dem 30. August und dem 14. September 2020 geplanten Dauermahnwache zum Protest gegen staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie hat die 1. Kammer des Ersten Senats einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Zuvor hatte schon das Oberverwaltungs­gericht Berlin-Brandenburg das Verbot der Dauermahnwache bestätigt.

Er genügt nicht dem auch im verfas­sungs­ge­richt­lichen Eilrechts­schutz­ver­fahren geltenden Grundsatz der Subsidiarität, wonach vor einer Anrufung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zunächst fachge­richtliche Rechts­schutz­mög­lich­keiten auszuschöpfen sind.

Der Antragsteller trägt vor, er habe seine ursprüngliche Anmeldung der Dauermahnwache vom 22. August 2020 nach der Entscheidung des Oberver­wal­tungs­ge­richts Berlin-Brandenburg am 29. August 2020 konkretisiert. Damit beruft sich der Antragsteller auf einen in wesentlicher Hinsicht neuen Sachverhalt, den das Oberver­wal­tungs­gericht bei seiner Entscheidung noch nicht berücksichtigen konnte. Der Antragsteller war deshalb gehalten, vor dem Hintergrund der veränderten Umstände zunächst erneut um fachge­richt­lichen Eilrechtsschutz nachzusuchen.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht: Erfolgs­aus­sichten einer Verfas­sungs­be­schwerde nicht offensichtlich

Entgegen der Einschätzung des Antragstellers sind die Erfolgs­aus­sichten einer Verfas­sungs­be­schwerde nicht derart offensichtlich, dass hier allein schon deshalb in der Nichtgewährung von Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne von § 32 Abs. 1 BVerfGG läge.

Das hier in Rede stehende Verbot des Protestcamps wurde auf § 15 Abs. 1 VersG gestützt. Nach der von dem Oberver­wal­tungs­gericht Berlin-Brandenburg bestätigten Einschätzung der Versamm­lungs­behörde stünde bei Durchführung des Camps eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Wesentlichen deshalb zu befürchten, weil die Veran­stal­tungs­teil­nehmer aus Gründen des Infek­ti­o­ns­schutzes gebotene Mindestabstände nicht einhalten würden. Im Vergleich zu einem Verbot mildere, zur Gefahrenabwehr ebenso geeignete Maßnahmen stünden nach den gegebenen Umständen nicht zu Verfügung. Diese Einschätzung ist nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand jedenfalls nicht offensichtlich unzutreffend.

Es steht im Grundsatz außer Zweifel, dass ein Eingriff in die Versamm­lungs­freiheit des Art. 8 Abs. 1 GG zum Schutz des Grundrechts Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gerechtfertigt werden kann. Unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhält­nis­mä­ßigkeit können zum Zweck des Schutzes vor Infek­ti­o­ns­ge­fahren auch versamm­lungs­be­schränkende Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehören grundsätzlich auch Versamm­lungs­verbote, die allerdings nur verhängt werden dürfen, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und soweit der hierdurch bewirkte tiefgreifende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG insgesamt nicht außer Verhältnis steht zu den jeweils zu bekämpfenden Gefahren. In Betracht kommen namentlich Auflagen mit der Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Mindestabstände, aber auch Beschränkungen der Teilnehmerzahl, um eine Unterschreitung notwendiger Mindestabstände zu verhindern. Darüber hinaus kommt auch in Betracht, im Wege einer Auflage im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG eine Verpflichtung der Versamm­lungs­teil­nehmer zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung anzuordnen, die nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts jedenfalls zu einer Verlangsamung des Infek­ti­o­ns­ge­schehens beitragen kann. Als weitere Regelungen der Modalitäten einer Versammlung kommen etwa die Durchführung als ortsfeste Kundgebung anstelle eines Aufzugs oder die Verlegung an einen aus infek­ti­o­ns­schutz­recht­licher Sicht vorzugswürdigen Alter­na­tivstandort in Betracht.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht führt Folgenabwägung durch

Weil danach nach den vorliegenden Umständen nicht offenkundig ist, dass das hier in Rede stehende Verbot die Versamm­lungs­freiheit des Antragstellers unver­hält­nismäßig beschränkt, ist eine Folgenabwägung geboten, die zum Nachteil des Antragstellers ausgeht.

Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich nach Durchführung eines Haupt­sa­che­ver­fahrens jedoch herausstellte, dass das Verbot des Camps verfas­sungs­widrig ist, wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht auf Versamm­lungs­freiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Diese Grund­rechts­ver­letzung wäre von erheblichem Gewicht nicht nur im Hinblick auf den Antragsteller, sondern angesichts der Bedeutung der Versamm­lungs­freiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das demokratische Gemeinwesen insgesamt. Erginge demgegenüber eine einstweilige Anordnung und würde sich später herausstellen, dass das Verbot des Camps rechtmäßig ist, wären grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen.

Die gebotene Abwägung der jeweils berührten Interessen geht zum Nachteil des Antragstellers aus. Anders wäre dies allenfalls, wenn eine Durchführung des Camps unter Bedingungen gewährleistet wäre, die ein hinreichendes Maß an Schutz vor möglichen Infek­ti­o­ns­ge­fahren sicherstellten. Hierzu bedürfte es eines geeigneten Hygienekonzepts. Das von dem Antragsteller anlässlich einer bereits gestern von ihm angemeldeten und durchgeführten Kundgebung vorgelegte Hygienekonzept setzt unter Verzicht auf das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen auf eine konsequente Einhaltung der gebotenen Mindestabstände, die insbesondere durch den Einsatz von Ordnern und Deeska­la­ti­o­nsteams sichergestellt werden soll. Mit Blick auf nach Durchführung der gestrigen Versammlung nunmehr vorliegende Erfahrungen musste sich der Antragsteller dazu veranlasst sehen, die praktische Eignung seines Konzepts zu bewerten und dieses erfor­der­li­chenfalls anzupassen. Dass dies geschehen ist, ist indes weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Im Übrigen ist das Konzept auf eine an einem einzelnen Tag stattfindende Versammlung zugeschnitten. Der Antragsteller hat nicht dargelegt, dass es auch für das nunmehr über einen Zeitraum von 14 Tagen geplante Camp realisierbar ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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