21.11.2024
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Dokument-Nr. 32052

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Bundesverfassungsgericht Beschluss01.08.2022

BVerfG stoppt Herausgabe eines Achtjährigen an VaterRückführung nach Spanien gefährdet Kindeswohl

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Vollstreckung eines familien­gerichtlichen Beschlusses, in dem festgestellt wird, dass die antragstellende Mutter verpflichtet ist, ihren im August 2013 geborenen Sohn an dessen in Spanien lebenden Vater herauszugeben, vorläufig ausgesetzt wird.

Die Antragstellerin ist die Mutter eines am 18. August 2013 in Madrid geborenen Sohnes, wo die nicht miteinander verheirateten Eltern gemeinsam lebten. Die Eltern trennten sich im März 2014. Ohne Zustimmung des Vaters reiste die Antragstellerin in demselben Monat über Portugal nach Deutschland aus. Der Vater leitete in Madrid ein Sorge­rechts­ver­fahren ein. Im Juni 2015 wurde ihm durch ein spanisches Gericht die Personensorge sowie das Recht zur Bestimmung des Wohnorts für den Sohn aufgrund des unbekannten Aufenthalts der Antragstellerin übertragen. Ein bei einem Familiengericht in Deutschland 2016 gestellter Antrag des Vaters, seinen Sohn auf der Grundlage des Haager Übereinkommen über die zivil­recht­lichen Aspekte internationaler Kindes­ent­führung (HKÜ) sofort nach Spanien zurückzuführen, blieb in beiden Instanzen erfolglos. Das Familiengericht und auf die Beschwerde des Vaters hin das Oberlan­des­gericht lehnten die Rückführung jeweils mit der Begründung ab, die Jahresfrist aus Art. 12 Abs. 1 HKÜ sei verstrichen und zudem habe sich das Kind zwischen­zeitlich in seine neue Umgebung eingelebt (vgl. Art. 12 Abs. 2 HKÜ).

Spanische Gericht ordnet Rückführung an

Später beantragte der Vater bei einem Gericht in Madrid, den Sohn nach Spanien zurückzuführen und ihn herauszugeben. Beides ordnete das angerufene Gericht in Madrid mit Beschluss vom 23. September 2021 an. Der Antragstellerin war die Gelegenheit eingeräumt worden, sich an dem Verfahren zu beteiligen. An dem Termin vor dem Gericht in Madrid am 8. September 2021 nahm sie trotz Ladung nicht teil. Soweit erkennbar, wurde das Kind vor dem spanischen Gericht nicht angehört und es wurde ihm auch kein Inter­es­sen­ver­treter bestellt. Dass das Kind den Vater praktisch nicht kennt und die Landessprache nicht beherrscht, findet sich in den Erwägungen des spanischen Gerichts nicht wieder. Das Gericht in Madrid stellte über die Entscheidung vom 23. September 2021 am 28. Februar 2022 eine Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO aus. Die Antragstellerin hat gegenüber dem spanischen Gericht einen auf diese Bescheinigung bezogenen Berich­ti­gungs­antrag gestellt, mit dem sie insbesondere die fehlende Berück­sich­tigung der Interessen des Kindes geltend machte. Über diesen Antrag ist nach dem hier bekannten Stand bisher nicht entschieden worden. In dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zugrun­de­lie­genden fachge­richt­lichen Verfahren begehrt der Vater die Vollstreckung der auf Rückführung und Herausgabe des Sohnes lautenden Entscheidung des Madrider Gerichts. Zu diesem Zweck hat er dem Familiengericht eine Bescheinigung gemäß Art. 42 Brüssel IIa-VO vorgelegt. Mit Beschluss vom 21. März 2022 stellte das Familiengericht Bamberg fest, dass die Antragstellerin sei aufgrund des spanischen Titels verpflichtet, ihren Sohn an den Vater herauszugeben. Die Entscheidung des Madrider Gerichts sei in Deutschland unmittelbar vollstreckbar. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Antragstellerin wies das Oberlan­des­gericht zurück. Das Rechtsmittel sei nicht begründet. Vollstreckbar seien Entscheidungen über die Rückgabe eines Kindes nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO, für die gemäß Art. 40 Abs. 1b) Brüssel IIa-VO eine Bescheinigung des Gerichts des Ursprungs­mit­glied­s­taates nach Art. 42 Abs. 2 Brüssel IIa-VO vorliege. Das Familiengericht habe zutreffend ausgeführt, dass die Vollstreckung bei Vorliegen einer solchen Bescheinigung ohne weitere Prüfung seitens des Vollstre­ckungs­ge­richts durchzuführen sei. Alle Einwände gegen die Herausgabe des Kindes oder das spanische Erkennt­nis­ver­fahren seien vor spanischen Gerichten geltend zu machen.

BVerfG setzt Vollstreckung der Rückführung eines Kindes nach Spanien vorläufig aus

Der Antrag auf einstweilige Anordnung war erfolgreich. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Streitfall auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfas­sungs­wid­rigkeit des angegriffenen Hoheitsakts anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei einem offenen Ausgang der Verfas­sungs­be­schwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfas­sungs­be­schwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfas­sungs­be­schwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe. Eine Entscheidung im Sinne von Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO läge, wie das Vollstre­ckungs­gericht zutreffend ausführt, nur dann vor, wenn sich die zuvor ergangene, die Rückführung ablehnende deutsche Entscheidung auf Art. 13 HKÜ gestützt hätte. Das Vollstre­ckungs­gericht legt aber dar, dass hier das Oberlan­des­gericht die bestätigende Beschwer­de­ent­scheidung vom 27. Juni 2016 über die Ablehnung einer Rückfüh­rungs­ent­scheidung durch das Familiengericht vom 24. März 2016 allein auf Art. 12 Abs. 2 HKÜ gestützt habe. Das spanische Gericht konnte sich bei seiner Entscheidung über die sofortige Rückgabe des Kindes vom 23. September 2021 also nicht auf Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO stützen, weil das deutsche Gericht nicht nach Art. 13 HKÜ entschieden hatte. Mithin war nach Art. 40 Abs. 1 b) Brüssel IIa-VO eine Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO nicht möglich. Das Gericht des Ursprungs­mit­glied­staats konnte also mangels Entscheidung nach Art. 13 HKÜ eine Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO ungeachtet inhaltlicher Fragen schon deshalb in keinem Fall ausstellen, weil der Anwen­dungs­bereich gar nicht erst eröffnet war. Liegt jedoch kein Fall des Art. 42 Brüssel IIa-VO vor, ist das deutsche Vollstre­ckungs­gericht an und für sich nicht pauschal an einer inhaltlichen Prüfung gehindert. Kommt dieser nicht zur Anwendung, kann nach allgemeinen Regeln inhaltlich geprüft werden und es können Grundrechte zur Geltung gebracht werden. Das Familiengericht und das Oberlan­des­gericht nehmen aber offenbar an, dass dem Vollstre­ckungs­gericht bei Vorlage einer Bescheinigung nach Art. 42 Brüssel IIa-VO nicht einmal die Prüfung möglich ist, ob der Anwen­dungs­bereich für den Prüfungs­aus­schluss nach Art. 40 Abs. 1 b) Brüssel IIa-VO überhaupt eröffnet ist oder dies schon mangels Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO nicht der Fall ist. Ob die Annahme eines so weitreichenden Prüfungs­aus­schlusses zutrifft, ist auch im Lichte der Unions­grund­rechte zu überprüfen. Geprüft würde vielmehr allein, ob die Anwendbarkeit von Art. 42 Brüssel IIa-VO überhaupt gegeben ist. Gelangt vor diesem Hintergrund eine an den Grundrechten des Kindes (insbesondere Art. 24 GRCh) geleitete Auslegung zu dem Ergebnis, dass das Vollstre­ckungs­gericht feststellen kann, dass Art. 42 Brüssel IIa-VO mangels Entscheidung nach Art. 11 Abs. 8 Brüssel IIa-VO von vornherein unanwendbar ist, könnte hier möglicherweise berücksichtigt werden, inwieweit durch die Erzwingung der Herausgabe des Kindes Grundrechte beeinträchtigt werden. Dann ist nicht auszuschließen, dass die dies außer Acht lassenden Entscheidungen des Famili­en­ge­richts und des Oberlan­des­ge­richts Grundrechte verletzen und eine noch zu erhebende Verfas­sungs­be­schwerde Erfolg hat.

Folgenabwägung zugunsten von Mutter und Kind

Angesichts des offenen Ausgangs einer noch zu erhebenden Verfas­sungs­be­schwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfas­sungs­be­schwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfas­sungs­be­schwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe. Danach war eine einstweilige Anordnung hier zunächst wegen der noch laufenden Frist zur Erhebung einer Verfas­sungs­be­schwerde zu erlassen. Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfas­sungs­be­schwerde aber später Erfolg hätte, würde das Kind an den Vater herausgegeben, der es sogleich nach Spanien mitnehmen dürfte. Das im Jahr 2013 geborene Kind hat seit 2014 in Deutschland gelebt, hat hier seine Mutter, die Familie seines Stiefvaters und Freunde, und es geht hier zur Schule. In Spanien wird sich das bald schon neunjährige Kind vorläufig kaum verständigen können, weil es kein Spanisch spricht. Auch mit seinem Vater, den es praktisch nicht kennt, wird es sich vorläufig kaum verständigen können. Der Vater spricht kein Deutsch. Das Kind muss also sein ihm seit vielen Jahren vertrautes Umfeld verlassen und allein in ein Land ziehen, dessen Sprache es nicht spricht und wo es keine ihm vertrauten Menschen erwarten. Bereits im Jahr 2016 hatten die deutschen Gerichte eine Rückführung abgelehnt, weil die Jahresfrist nach Art. 12 Abs. 2 HKÜ verstrichen sei und sich das Kind in Deutschland eingelebt habe. In der Folgezeit ist es zu keiner Intensivierung der Kontakte zum Vater gekommen. Es widerspreche dem Kindeswohl in eklatanter Weise, das Kind aus seinem gewohnten Umfeld zu reißen, von seiner bisherigen Haupt­be­zugs­person, der Mutter, zu trennen und es, ohne dass eine Kontak­tan­bahnung stattgefunden hätte, zu seinem Vater, einem ihm völlig fremden Mann, ins Ausland zu verbringen. Das spanische Gericht hat das Kind zu keinem Zeitpunkt angehört, hat also auch die Entscheidung vom 23. September 2021 über die Rückführung des Kindes nach Spanien getroffen, ohne das Kind jemals gesehen oder gesprochen zu haben. Daher erscheint zweifelhaft, dass es die Belastung des Kindes angemessen erfassen konnte. Wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfas­sungs­be­schwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe, würde das Kind möglicherweise bis zum Abschluss eines Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahrens weiterhin nicht zu seinem Vater nach Spanien zurückgeführt, von wo es vor über acht Jahren durch die Antragstellerin nach Deutschland verbracht wurde. Das dem Vater widerfahrene Unrecht vertiefte sich in dem Maße, in dem sich die Rückführung verzögerte. Die Nachteile des Kindes hielten sich hingegen in Grenzen, gerade weil es sich seit vielen Jahren in Deutschland eingelebt hat und die Rückführung nach Spanien eine erhebliche Belastung darstellte. Stellt man die Nachteile einander gegenüber, überwiegen die Nachteile, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfas­sungs­be­schwerde aber später Erfolg hätte. Dies folgt vor allem aus der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls, die bei einer gegebenenfalls lediglich zeitweiligen Rückführung des Sohnes der Antragstellerin nach Spanien drohte.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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