18.10.2024
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Dokument-Nr. 32372

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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.10.2022

Diver­genz­vorlage zu Thüringer Corona­ver­ordnung unzulässigBVerfG äußert sich nicht zu früherer Corona-Verordnung

Das Bundes­verfassungs­gericht hat die Feststellung getroffen, dass eine Vorlage des Thüringer Verfassungs­gerichts­hofs nach Art. 100 Abs. 3 GG zur Thüringer Verordnung über außer­or­dentliche Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 vom 31. Oktober 2020 (Thüringer SARS-CoV-2-Sonder­eindämmungs­maßnahmen­verordnung) unzulässig ist.

Die Thüringer SARS-CoV-2-Sonde­r­ein­däm­mungs­maß­nah­men­ver­ordnung wurde zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erlassen. Sie trat Anfang November 2020 in Kraft. Ihre Geltung war bis zum 30. November 2020 befristet. Rechtsgrundlage für die Thüringer SARS-CoV-2-Sonde­r­ein­däm­mungs­maß­nah­men­ver­ordnung war § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28, § 29, § 30 Abs. 1 Satz 2 und § 31 IfSG jeweils in den seinerzeit geltenden Fassungen. Diese nicht auf die COVID-19-Pandemie zugeschnittenen Vorschriften ermächtigen die Landes­re­gie­rungen, unter bestimmten Voraussetzungen durch Rechts­ver­ord­nungen Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. § 28a IfSG, der eine gesetzliche Konkretisierung dafür enthält, welche besonderen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen werden können, wurde erst mit Wirkung zum 19. November 2020 und damit nach Erlass der Thüringer SARS CoV2 Sonde­r­ein­däm­mungs­maß­nah­men­ver­ordnung in das Infek­ti­o­ns­schutz­gesetz eingefügt. Mit ihrem abstrakten Normen­kon­trol­lantrag vom 10. November 2020 wandte sich die Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) im Thüringer Landtag gegen die Thüringer SARS-CoV-2-Sonde­r­ein­däm­mungs­maß­nah­men­ver­ordnung.

VerfGH setzt Ausgangs­ver­fahren um eine Entscheidung des BVerfG einzuholen

Der Thüringer Verfas­sungs­ge­richtshof beabsichtigt, seiner Entscheidung über den Normen­kon­trol­lantrag Rechts­auf­fas­sungen zugrunde zu legen, die seiner Ansicht nach bei der Auslegung des Grundgesetzes von zwei Urteilen des Landes­ver­fas­sungs­ge­richts Sachsen-Anhalt vom März 2021 - LVG 25/20 und LVG 4/21 - abweichen. Er hat daher mit Beschluss vom Mai 2021 das Ausgangs­ver­fahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts nach Art. 100 Abs. 3 GG einzuholen. Die ersten beiden der vom Thüringer Verfas­sungs­gericht dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vorgelegten Fragen sind auf die verfas­sungs­rechtliche Prüfung gerichtet, ob es in einer mit Ungewissheiten behafteten Gefahrenlage für eine Übergangszeit zulässig ist, auch eingriff­sin­tensive Ge- und Verbote in Rechts­ver­ord­nungen abweichend von den Anforderungen der Wesent­lich­keits­theorie und des Parla­ments­vor­behalts auf eine Generalklausel zu stützen, und nach welchen abstrakten Kriterien eine solche Übergangszeit zu bemessen ist. Gegenstand von zwei weiteren Vorlagefragen ist die verfas­sungs­rechtliche Prüfung, ob an die Delegation von Recht­set­zungs­be­fug­nissen auf die Exekutive im Hinblick auf die Bestimmung von Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­be­ständen nach Art. 103 Abs. 2 GG strengere Anforderungen zu stellen sind als an die Bestimmung der ihnen zugrun­de­lie­genden Ge- und Verbote nach Art. 80 Abs. 1 GG. Darüber hinaus stellt das Vorlagegericht eine ergänzende Frage zum Prüfungsmaßstab bei der Verletzung des landes­ver­fas­sungs­recht­lichen Rechts­s­taats­prinzips.

Keine Divergenz bei erster Vorlagefrage

Das BVerfG hat die Vorlage für unzulässig erachtet. Bei einer Gegen­über­stellung der tragenden Rechtssätze des Vorlagegerichts und des Urteils des Landes­ver­fas­sungs­ge­richts Sachsen-Anhalt vom März 2021 - LVG 25/20 -, auf das sich das Vorlagegericht hinsichtlich der ersten beiden Vorlagefragen bezieht, lässt sich in Bezug auf die Auslegung des Grundgesetzes nach den Darlegungen des Vorlagegerichts keine Divergenz feststellen. Soweit der Thüringer Verfas­sungs­ge­richtshof den Rechtssatz aufzustellen beabsichtigt, dass ein Rückgriff auf eine Generalklausel in unvor­her­ge­sehenen Gefah­ren­si­tua­tionen zum Zwecke einer effektiven Gefahrenabwehr für eine Übergangszeit verfas­sungs­rechtlich zulässig sei, auch wenn Maßnahmen ergriffen würden, die im Lichte der Wesent­lich­keits­theorie im Grunde näher regelungs­be­dürftig wären, ist der genannten Entscheidung des Landes­ver­fas­sungs­ge­richts Sachsen-Anhalt kein abweichender Rechtssatz zu entnehmen. Vielmehr hat es diese Rechtsfrage ausdrücklich offengelassen, weil ein Überg­angs­zeitraum bei Erlass der dort angegriffenen Landes­ver­ordnung jedenfalls bereits abgelaufen gewesen sei.

Zweite Vorlagefrage betrifft lediglich Einzelfallfrage

Die zweite Vorlagefrage bezeichnet zwar eine Divergenz mit dem Landes­ver­fas­sungs­gericht Sachsen-Anhalt. Dieses ist, anders als das vorlegende Gericht, der Auffassung, dass ein dem Gesetzgeber möglicherweise einzuräumender Überg­angs­zeitraum, in dem intensiv in Grundrechte eingreifende Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auf eine Generalklausel gestützt werden könnten, jedenfalls im Herbst 2020 nicht mehr bestanden habe. Die Vorlagefrage ist jedoch so formuliert, dass sie eine von Art. 100 Abs. 3 GG nicht erfasste einzel­fa­ll­be­zogene Frage der Subsumtion zum Gegenstand hat. Der Verfas­sungs­ge­richtshof legt nicht dar, dass sich dem Urteil des Landes­ver­fas­sungs­ge­richts Sachsen-Anhalt ein seiner eigenen Rechts­auf­fassung wider­spre­chender abstrakter Rechtssatz zu den an die Dauer eines Überg­angs­zeitraums zu stellenden rechts­s­taat­lichen Anforderungen entnehmen lässt.

Dritten Vorlagefrage nicht entschei­dungs­er­heblich

Auch hinsichtlich der dritten Vorlagefrage ist die Divergenzvorlage unzulässig. Zwar liegt auch insoweit ein tauglicher Vorla­ge­ge­genstand vor. Die dritte Vorlagefrage zielt auf die das Grundgesetz betreffende Auslegungsfrage, ob an die Ermächtigung der Exekutive zum Erlass von Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­be­ständen nach Art. 103 Abs. 2 GG strengere Anforderungen zu stellen sind als an die Ermächtigung zum Erlass der ihnen zugrun­de­lie­genden Ge- und Verbote nach Art. 80 Abs. 1 GG. Doch fehlt es hier ebenfalls an einem Vorlagegrund. Denn die Vorlagefrage ist in dieser Allgemeinheit nach der eigenen Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts nicht entschei­dungs­er­heblich. Das Vorlagegericht sieht die sich aus Art. 80 Abs. 1 GG ergebenden Bestimmt­heits­an­for­de­rungen nur deshalb als gewahrt an, weil die dem Gesetzgeber bei unvor­her­ge­sehenen Gefah­ren­si­tua­tionen für näher bestimmte Regelungen eingeräumte Übergangszeit im Herbst 2020 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Ohne Anerkennung eines solchen Überg­angs­zeitraums hätte das Vorlagegericht also nicht nur angenommen, dass die Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­be­stände Art. 103 Abs. 2 GG verletzen, sondern wäre auch hinsichtlich der eingriff­sin­tensiven Ge- und Verbote davon ausgegangen, dass Art. 80 Abs. 1 GG mangels hinreichend bestimmter Ermäch­ti­gungs­grundlage verletzt sei. Für diesen Fall kommt es demnach nicht auf die Frage an, ob Art. 80 Abs. 1 GG generell weniger strenge Anforderungen an eine Ermächtigung zum Erlass gefah­re­n­ab­wehr­recht­licher Ge- und Verbote stellt als Art. 103 Abs. 2 GG an eine Ermächtigung zu deren Bußgeld­be­wehrung. Die dritte Vorlagefrage ist auch dann unzulässig, wenn sie dahin verstanden wird, dass sie auf die verfas­sungs­rechtliche Prüfung gerichtet ist, ob in einer mit Ungewissheiten behafteten Gefahrenlage zwar eingriff­sin­tensive gefah­re­n­ab­wehr­rechtliche Ge- und Verbote für eine Übergangszeit lediglich auf eine Generalklausel gestützt werden können, dies jedoch wegen gesteigerter Bestimmt­heits­an­for­de­rungen nach Art. 103 Abs. 2 GG nicht für deren Bußgeld­be­wehrung gilt. Denn das Landes­ver­fas­sungs­gericht Sachsen-Anhalt hat die so verstandene Frage im Urteil vom März 2021 - LVG 4/21 - nicht abweichend von der Rechtsansicht des Thüringer Verfas­sungs­ge­richtshofs verneint. Vielmehr stellte sie sich für das Landes­ver­fas­sungs­gericht Sachsen-Anhalt nicht, da dieses bereits unter Geltung des neu in Kraft getretenen § 28 a IfSG zu entscheiden hatte.

Auch vierte und fünfte Vorlagefrage unzulässig

Für die vierte Vorlagefrage fehlt es an einem tauglichen Vorla­ge­ge­genstand, da diese bloß die Anwendung des unter der dritten Vorlagefrage abgefragten verfas­sungs­recht­lichen Maßstabs auf den konkreten Einzelfall betrifft. Eine Beantwortung der erweiternden fünften Vorlagefrage, für die kein eigenständiger Vorlagegrund besteht, kommt aufgrund der Unzulässigkeit der übrigen Vorlagefragen nicht in Betracht.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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