18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss19.10.2022

Niedrigere „Sonder­be­da­rfsstufe“ für alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Sammel­un­ter­künften verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimumsKürzungen für alleinstehende Asylbewerber in Sammel­un­ter­künften verfas­sungs­widrig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 des Asyl­bewerber­leistungs­gesetzes (AsylbLG) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar ist.

Die Entscheidung betrifft alleinstehende Erwachsene, die in sogenannten Sammel­un­ter­künften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ihnen hat der Gesetzgeber ab dem 1. September 2019 einen um 10 % geringeren Bedarf an existenz­si­chernden Leistungen zugeschrieben, indem nicht mehr die Regel­be­da­rfsstufe 1, sondern die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG neu geschaffene „Sonder­be­da­rfsstufe“ der Regel­be­da­rfsstufe 2 zugrunde gelegt wird. Davon betroffen war auch der Kläger des Ausgangs­ver­fahrens ein sri-lankischer Staats­an­ge­höriger, der 2014 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und seit Juli 2015 Leistungen nach § 2 AsylbLG nach der Regel­be­da­rfsstufe 1, erhielt. Nach Ablehnung seines Asylantrags im Jahr 2017 war er von November 2019 bis Februar 2020 in einer Sammel­un­terkunft untergebracht, im Besitz einer Duldung und vollziehbar ausrei­se­pflichtig. Er teilte sich mit einer Person einen Schlafraum und mit weiteren Personen Küche und Bad. Zwischen ihnen bestand kein Verwandt­schafts­ver­hältnis. Die im Ausgangs­ver­fahren beklagte Stadt bewilligte dem Kläger ab November 2019 Leistungen nach § 2 AsylbLG in Höhe der Regel­be­da­rfsstufe 2, abzüglich Strom- und Energiekosten und abzüglich einer Pauschale für Innen­ausstattung und Geräte. Der dagegen eingelegte Widerspruch hatte keinen Erfolg. Die Klage zum Sozialgericht zielt auf höhere Leistungen nach Maßgabe der Regel­be­da­rfsstufe 1. Dieses Verfahren hat das Sozialgericht am 13. April 2021 ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage vorgelegt, ob § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG verfas­sungsgemäß ist, soweit von der Norm alleinstehende erwachsene Leistungs­be­rechtigte erfasst sind.

BVerfG: Verstoß gegen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums

Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG genügt den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen nicht. Die Anwendung der niedrigeren Regel­be­da­rfsstufe 2 auf alleinstehende Erwachsene in Sammel­un­ter­künften verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Alleinstehende in den Sammel­un­ter­künften, weil sie typischerweise gemeinsam mit anderen dort Wohnenden wirtschaften und dadurch für den Regelbedarf relevante Einsparungen erzielen würden, tatsächlich im Regelfall einen geringeren Bedarf haben als Alleinstehende in einer eigenen Wohnung. Tragfähige Erkenntnisse dazu liegen nicht vor. Der Gesetzgeber hat dazu keine Erhebungen angestellt oder entsprechende Erkenntnisse in dieses Verfahren eingebracht. Die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchen­grund­bedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemein­schafts­küchen gemeinsam genutzt werde, wird nicht auf Tatsachen gestützt. Vielmehr wird nur eine Erwartung formuliert, ohne zu belegen, dass sie tatsächlich erfüllt wird. Auch die pauschale Annahme, dass in Sammel­un­ter­künften so wie in Paarhaushalten gemeinsam „aus einem Topf“ gewirtschaftet wird, trägt ohne tatsächliche Grundlagen nicht.

Pauschale Absenkung der Leistungen um 10 % unver­hält­nismäßig

Zwar kann der Gesetzgeber den Bezug existenz­si­chernder Leistungen auch grundsätzlich an die Erfüllung der Obliegenheit knüpfen, tatsächlich eröffnete, hierfür geeignete, erforderliche und zumutbare Möglichkeiten zu ergreifen, die Bedürftigkeit unmittelbar zu vermeiden oder zu vermindern. Doch muss dies auch tatsächlich möglich und zumutbar sein. Das ist nur der Fall, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammel­un­ter­künften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese Obliegenheit erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Dafür haben sich in diesem Verfahren keine Anhaltspunkte ergeben. Die § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG zugrun­de­liegende Obliegenheit, durch gemeinsames Wirtschaften in einer Sammel­un­terkunft den Bedarf an existenz­si­chernden Leistungen des Staates zu senken, dient dem legitimen Ziel, den Nachrang­grundsatz zu verwirklichen und Leistungen auf die Fälle wirklicher Bedürftigkeit der in Deutschland lebenden Menschen zu begrenzen. Sie ist zur Erreichung dieses Ziels auch noch als geeignet und erforderlich anzusehen. Doch ist die auf der Obliegenheit beruhende pauschale Absenkung der Leistungen um 10 % durch Vorgabe der Regel­be­da­rfsstufe 2 nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Der existenz­not­wendige Bedarf der Betroffenen ist damit derzeit nicht gedeckt. Die Leistungs­ab­senkung verhindert vielmehr die nach Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebotene Sicherung des Existenz­mi­nimums, wenn der Bedarf an existenz­si­chernden Leistungen nicht tatsächlich entsprechend verringert ist oder nachweisbar tatsächlich entsprechend verringert werden kann. Die Regelung bewirkt dann eine verfas­sungs­widrige Unterdeckung. Eine solche Unterdeckung liegt nicht vor, wenn der Bedarf tatsächlich gedeckt ist. Deshalb ist den Behörden gesetzlich vorgegeben, in solchen Einzelfällen einen geringeren Regelsatz festzusetzen. Der Gesetzgeber folgt damit dem Nachrang­grundsatz. Die Unterdeckung träte auch nicht ein, wenn von alleinstehenden Erwachsenen in Sammel­un­ter­künften realistisch erwartet werden könnte, ihre Bedürftigkeit in einem Umfang von 10 % des Regelsatzes der Regel­be­da­rfsstufe 1 zu vermindern. Das ist aber nicht der Fall. Die pauschale Absenkung stützt sich nicht auf hinreichend tragfähige Erkenntnisse dazu, dass Bedarfe durch Verhalten der Betroffenen in diesem Umfang tatsächlich verringert werden können. Hier genügt die Annahme, die Betroffenen bildeten eine „Schick­sals­ge­mein­schaft“, nicht. Auch ist die Annahme, eine Obliegenheit, gemeinsam zu wirtschaften, könne tatsächlich erfüllt und dadurch Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden, nicht durch empirische Erkenntnisse belegt. Entsprechende Untersuchungen liegen auch drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung nicht vor.

Kein Ausgleich durch Regelung in § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII

Das gleicht auch die Regelung in § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht aus, wonach der Regelsatz im Einzelfall höher festgesetzt wird. Auch dann müsste – anders als hier – durch hinreichend tragfähige Anhaltspunkte belegt sein, dass im Regelfall die Voraussetzungen für den niedrigeren Regelsatz aufgrund von Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in den Sammel­un­ter­künften vorlägen. Die Regelung zur Sonderbedarfsstufe lässt sich auch nicht damit begründen, dass bei einem Leben in Sammel­un­ter­künften bestimmte Bedarfe zu kürzen seien. Auch ist derzeit nicht sichergestellt, dass es durch eine Kombination der abgesenkten Regel­be­da­rfsstufe 2 und einer Kürzung des Regelsatzes im Einzelfall gemäß § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XII nicht zu einem doppelten Abzug aus demselben Grund kommt.

Norm ausnahmsweise nicht nichtig

Die Verfas­sungs­wid­rigkeit führt ausnahmsweise nicht zur Nichtigkeit von § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG. Es ist die fortdauernde Anwendung der Norm anzuordnen, da das grundrechtlich garantierte Existenzminimum sonst nicht gesichert ist. Für die im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung nicht bestands­kräftigen Leistungs­be­scheide sind die Leistungen ab dem 1. September 2019, dem Tag des Inkrafttretens der hier beanstandeten Regelung, nach Maßgabe der Regel­be­da­rfsstufe 1 zu berechnen. Die bereits bestands­kräftigen Leistungs­be­scheide bleiben unberührt, soweit Leistungs­zeiträume vor Bekanntgabe dieser Entscheidung betroffen sind.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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