18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss12.10.2010

Haftungs­privileg nach Sozial­ge­setzbuch auch für getrennt lebende ElternBVerfG zur Haftungs­pri­vi­le­gierung des nicht mit dem Kind in einem Haushalt lebenden Elternteils nach § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht musste sich der Frage stellen, ob § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als das er eine Haftungs­pri­vi­le­gierung des nicht in häuslicher Gemeinschaft lebenden, unter­halts­pflichtigen Kindesvaters im Gegensatz zu in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familien­an­ge­hörigen nicht vorsieht.

Die Vorschrift des § 116 SGB X bestimmt, dass ein Anspruch des Geschädigten auf Ersatz eines Schadens von ihm auf den Sozialleistungsträger übergeht, soweit dieser aufgrund des Schaden­se­r­eig­nisses Sozia­l­leis­tungen an den Geschädigten zur Schadens­be­hebung zu erbringen hat. Von diesem Anspruchs­übergang sind gemäß dem vorliegend maßgeblichen Satz 1 des Absatzes 6 der Norm Ansprüche wegen nicht vorsätzlicher Schädigung gegen Familien­an­ge­hörige ausgenommen, die mit dem Geschädigten in einer häuslichen Gemeinschaft leben.

Sachverhalt:

Der Beklagte des Ausgangs­ver­fahrens ist Vater eines im Jahr 2000 nichtehelich geborenen Sohnes, für den beide Elternteile die Personensorge gemeinsam ausübten. Der Junge lebte bei der Kindesmutter. Der Beklagte kam seiner Unter­halts­pflicht für das Kind uneingeschränkt nach. Zwischen ihm und dem Jungen fand regelmäßig jedes zweite Wochenende Umgang im Hausanwesen der Großeltern des Kindes statt, in dem auch der Beklagte lebte. Während eines solchen Besuchs­wo­che­nendes Anfang August 2001 fiel das einige Minuten unbeauf­sichtigte Kind in eine auf dem Grundstück stehende, ungesicherte Regentonne und befand sich etwa zehn Minuten unter Wasser. Hierdurch erlitt der Junge schwerste Schäden, die voraussichtlich auf Lebensdauer zu einem Betreuungs- und Beauf­sich­ti­gungs­bedarf führen werden. Der zuständige Sozia­l­hil­fe­träger erbringt seit August 2002 für das Kind Leistungen der Sozialhilfe in Form der Einglie­de­rungshilfe. Er ist Kläger des Ausgangs­ver­fahrens und nimmt den Beklagten aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht wegen Verletzung der Aufsichts­pflicht auf Schadensersatz in Anspruch.

Haftungs­aus­schluss wegen grober Fahrlässigkeit greift nicht

Das Landgericht geht davon aus, dass der Beklagte seine Aufsichts­pflicht grob fahrlässig verletzt hat und deshalb der famili­en­rechtliche Haftungsausschluss nach § 1664 Abs. 1 BGB für ihn nicht greift. Es hält jedoch § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und den verfas­sungs­rechtlich gewährleisteten Schutz der Familie für verfas­sungs­widrig und hat dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht im konkreten Normen­kon­troll­ver­fahren die Frage vorgelegt, ob § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als er eine Haftungs­pri­vi­le­gierung des nicht in häuslicher Gemeinschaft lebenden, unter­halts­pflichtigen Kindesvaters im Gegensatz zu in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familien­an­ge­hörigen nicht vorsieht.

§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X mit Grundgesetz vereinbar

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat entschieden, dass § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die durch den Ausschluss des Anspruchs­übergangs erfolgende Privilegierung von Familien­an­ge­hörigen, die in häuslicher Gemeinschaft leben, gegenüber getrennt lebenden Familien­an­ge­hörigen ist auch im Hinblick auf Eltern und ihre Kinder sachlich gerechtfertigt. Allerdings ist § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X unter Berück­sich­tigung des grund­recht­lichen Schutzes der Familie und des Elternrechts dahingehend auszulegen, dass eine haftungs­pri­vi­le­gierende häusliche Gemeinschaft auch zwischen dem Kind und demjenigen Elternteil entsteht, der zwar von ihm getrennt lebt, jedoch seiner Verantwortung für das Kind in dem ihm rechtlich möglichen Maße nachkommt und regelmäßigen sowie längeren Umgang mit dem Kind pflegt, so dass dieses zeitweise auch in seinen Haushalt integriert ist.

§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verstößt nicht gegen das Grundgesetz Schutz der Familie

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verstößt nicht gegen den nach Art. 6 Abs. 1 GG zu gewähr­leis­tenden Schutz der Familie. Denn bei der Inanspruchnahme eines gegenüber einem Familien­an­ge­hörigen schaden­s­er­satz­pflichtigen anderen Familien­an­ge­hörigen infolge eines Anspruchs­übergangs handelt es sich schon nicht um eine famili­en­be­dingte finanzielle Belastung, sondern um eine, die die Familie zwar trifft, aber aus einer Schadensersatz begründenden Handlung eines Famili­en­mit­glieds herrührt. Zur Kompensation einer solchen, dem einzelnen Familien­an­ge­hörigen aus einer von ihm zu verantwortenden Verlet­zungs­handlung, wie zum Beispiel der Verletzung seiner elterlichen Pflichten, entstehenden finanziellen Belastung ist der Staat durch Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht verpflichtet.

Norm differenziert nicht zwischen eheliches oder nichteheliches Kind

Auch Art. 6 Abs. 5 GG, der die Schlech­ter­stellung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichen Kindern verbietet, wird durch § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X nicht verletzt. Die Norm differenziert nicht danach, ob es sich bei dem schädigenden oder geschädigten Familien­an­ge­hörigen um ein eheliches oder nichteheliches Kind handelt, vielmehr danach, ob der schädigende mit dem geschädigten Familien­an­ge­hörigen in häuslicher Gemeinschaft lebt. Diese Unterscheidung führt auch nicht zu einer mittelbaren Ungleich­be­handlung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichen Kindern. Denn heutzutage kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass in aller Regel nichteheliche Kinder nur mit einem Elternteil leben und eheliche Kinder in häuslicher Gemeinschaft mit beiden Elternteilen aufwachsen. Vielmehr können eheliche Kinder, deren Eltern sich getrennt haben, von dem Haftungs­privileg ebenso ausgenommen sein.

Allgemeiner Gleichheitssatz auch nicht verletzt

Es verletzt ferner nicht den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG, dass § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X den Übergang eines Schaden­s­er­satz­an­spruchs auf den Sozia­l­leis­tungs­träger dann ausschließt, wenn ein Schadens­ver­ur­sacher mit seinem Familien­an­ge­hörigen, dem er Schaden zugefügt hat, in häuslicher Gemeinschaft lebt, nicht dagegen, wenn die beiden getrennt leben. Diese Ungleich­be­handlung ist durch hinreichende Gründe gerechtfertigt.

Haftungs­privileg soll wirtschaftliche Benachteiligung des Geschädigten vermeiden

Nach der gesetz­ge­be­rischen Zwecksetzung sollte durch das Haftungs­privileg zum einen eine mittelbare wirtschaftliche Benachteiligung des Geschädigten vermieden werden. Die Gefahr einer solchen Beein­träch­tigung des geschädigten Familien­an­ge­hörigen durch einen Rückgriff des Sozia­l­leis­tungs­trägers auf den Schädiger ist größer, wenn dieser mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt. Dies gilt auch, wenn der Geschädigte ein Kind und der Schädiger dessen unter­halts­pflichtiger Elternteil ist. Durch den Regress bei dem getrennt lebenden, zu Barunterhalt verpflichteten Elternteil verringern sich lediglich seine finanziellen Mittel zur Bestreitung seines eigenen Lebens­un­terhalts. Der Rückgriff hat jedoch in der Regel keine Auswirkungen auf die Höhe des dem Kind geschuldeten Unterhalts, da die Rückgriffs­for­derung des Sozia­l­leis­tungs­trägers unter­halts­rechtlich nicht berück­sich­ti­gungsfähig ist und im Falle einer Verbrau­che­r­in­solvenz des unter­halts­pflichtigen Elternteils der Unter­halts­an­spruch des geschädigten Kindes, der vorrangig vor der Regress­for­derung des Sozia­l­leis­tungs­trägers zu bedienen ist, ungeschmälert erhalten bliebe. Würde hingegen der Elternteil, bei dem das geschädigte Kind lebt, als Schädiger in Regress genommen, minderte sich das Einkommen, das dem gemeinsamen Eltern-Kind-Haushalt zur Verfügung steht, wodurch auch dem geschädigten Kind die Mittel für seinen Unterhalt entzogen und damit seine Lebensqualität beeinträchtigt würde. Denn die Höhe der Ausgaben für Kinder hängt wesentlich von der Höhe des Haushalt­s­ein­kommens der sie betreuenden Elternteile ab.

Rückgriff des Leistungs­trägers gefährdet häuslichen Frieden

Des Weiteren ist auch die mit dem Rückgriff des Sozia­l­leis­tungs­trägers verbundene Gefahr einer Störung des häuslichen Friedens zwischen dem schädigenden und geschädigten Familien­an­ge­hörigen deutlich größer, wenn beide in häuslicher Gemeinschaft leben. Das Schaden­se­r­eignis lässt ein Konflikt­po­tential zwischen Schädiger und Geschädigtem entstehen, das ihr Verhältnis zueinander schwer belasten kann. Würde die finanzielle Belastung durch einen Regress des Sozia­l­leis­tungs­trägers noch hinzukommen, könnte dies die häuslichen Spannungen erheblich steigern, denen beide, anders als bei einem Getrenntleben von Schädiger und Geschädigtem, permanent und zwangsläufig ausgesetzt wären. Dies träfe ein von einem Elternteil geschädigtes Kind in besonderer Weise und würde sich negativ auf seine Entwicklung auswirken. Bei einem Getrenntleben des Kindes von dem Elternteil ist es diesen Spannungen nicht unmittelbar und dauernd ausgesetzt, sondern wird damit gar nicht oder nur während zeitlich begrenzter Zusammentreffen mit dem Elternteil konfrontiert.

Regelmäßiger Umgang und anderen Pflicht­wahr­neh­mungen des getrennt­le­benden Elternteils ist gleichzusetzen mit häuslicher Gemeinschaft

Die für den Ausschluss des Anspruchs­übergangs nach § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X maßgebliche Tatbe­stands­vor­aus­setzung, dass der schädigende mit dem geschädigten Familien­an­ge­hörigen in häuslicher Gemeinschaft lebt, ist allerdings bei Kindern und ihren von ihnen getrennt lebenden Elternteilen im Lichte des Schutzes der auch zwischen ihnen bestehenden Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG sowie des Elternrechts des getrennt lebenden Elternteils aus Art. 6 Abs. 2 GG auszulegen. Trägt ein Elternteil mit dem anderen Elternteil, bei dem sich sein Kind vorrangig aufhält, gemeinsam die Sorge für das Kind oder ist allein aus Kindes­wohl­gründen nicht ihm, sondern dem anderen Elternteil die Alleinsorge eingeräumt, zahlt er regelmäßig den vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt und praktiziert den verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind, der auch ein Verweilen und Übernachten des Kindes in seinem Haushalt mit umfasst, kommt dieser Elternteil in vollem, ihm rechtlich möglichen Umfang seiner elterlichen Verantwortung seinem Kind gegenüber nach. Ein solches Leben in häuslicher Gemeinschaft unter dem Vorzeichen getrennt lebender Eltern ist im Hinblick auf den mit § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verfolgten Schutzzweck mit einer häuslichen Gemeinschaft gleichzusetzen, in der ein Elternteil mit seinem Kind tagtäglich zusammenlebt. Denn diese Art des Zusammenlebens ist nicht minder vor Beein­träch­ti­gungen infolge des Anspruchs­übergangs auf den Sozia­l­leis­tungs­träger zu bewahren. In einem solchen Eltern-Kind-Verhältnis wird regelmäßig auch der barun­ter­halts­pflichtige Elternteil aus seiner Haushaltskasse Leistungen für das Kind erbringen, die über seine Verpflichtung zur Unter­halts­zahlung hinausgehen, ihm aber nicht mehr wie bisher möglich wären, wenn der Sozia­l­leis­tungs­träger wegen eines übergegangenen Schaden­s­er­satz­an­spruchs des Kindes auf ihn Rückgriff nehmen würde. Die Vermeidung von Spannungen und Streitigkeiten aufgrund einer Geltendmachung übergeleiteter Schaden­s­er­satz­ansprüche ist bei einer häuslichen Gemeinschaft mit teilweisem Zusammenleben von Kind und Elternteil ebenso vonnöten wie bei einer häuslichen Gemeinschaft, in der Elternteil und Kind stetig zusammenleben. Wenn die vorgenannten Voraussetzungen bei dem Beklagten des Ausgangs­ver­fahrens und seinem Kind vorgelegen haben, was das Landgericht zu prüfen hat, könnte er gemäß § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X trotz eines nicht ständigen Aufenthalts des Kindes bei ihm nicht in Regress genommen werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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