26.11.2024
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Dokument-Nr. 34589

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Bundesverfassungsgericht Urteil26.11.2024

Kranken­haus­vor­behalt bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen laut Bundes­ver­fas­sungs­gericht teilweise verfas­sungs­widrigÄrztliche Zwangsmaßnahmen künftig auch außerhalb von Krankenhäusern möglich

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der bis 31. Dezember 2022 geltenden Fassung (a.F.) und die wortlau­ti­den­tische ab 1. Januar 2023 geltende Vorschrift des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB (n.F.) teilweise mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar sind. Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, ist verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt. Der Gesetzgeber ist zur Neuregelung spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026 verpflichtet. Bis zu einer Neuregelung gilt das bisherige Recht fort.

Widerspricht eine Untersuchung des Gesund­heits­zu­stands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen eines Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), kann ein Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen. Die Einwilligung, die der Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts bedarf, setzt nach der bisherigen Regelung unter anderem die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus voraus.

Kein Kranken­haus­vor­behaltt, wenn dadurch gesundheitliche Beein­träch­tigung droht

Dieser Kranken­haus­vor­behalt ist mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unvereinbar, soweit Betreuten aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrschein­lichkeit drohen. Dies gilt nur, wenn zugleich zu erwarten ist, dass diese Beein­träch­ti­gungen in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Kranken­hausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass andere Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.

Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen. Richter Wolff hat ein Sondervotum abgegeben.

Sachverhalt:

Widerspricht eine Untersuchung des Gesund­heits­zu­stands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), kann ein Betreuer mit entsprechendem Aufgabenkreis in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen. Die Voraussetzungen für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme legt § 1906 a Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. beziehungsweise § 1832 Abs. 1 Satz 1 BGB n.F. fest. Eine der Voraussetzungen besteht darin, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird.

Die Einwilligung des Betreuers in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts (§ 1906 a Abs. 2 BGB a.F., § 1832 Abs. 2 BGB n.F.). Auch in eine etwaig notwendige Verbringung des Betreuten zu einem stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus gegen seinen natürlichen Willen zum Zweck der ärztlichen Zwangsmaßnahme kann der Betreuer einwilligen; diese Einwilligung steht ebenfalls unter betreu­ungs­ge­richt­lichem Geneh­mi­gungs­vor­behalt.

Mit der Einführung von § 1906 a BGB a.F. wollte der Gesetzgeber eine vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht beanstandete Schutzlücke schließen. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht befand mit Beschluss vom 26. Juli 2016 (BVerfGE 142, 313), dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG den Gesetzgeber verpflichte, ein System der Hilfe und des Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen vorzusehen, die die Erfor­der­lichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln könnten. Dabei müssten strenge materielle und verfah­rens­rechtliche Anforderungen an eine solche Zwangsbehandlung die möglichst weitgehende Berück­sich­tigung der betroffenen Freiheitsrechte sicherstellen. Mit der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates sei es unvereinbar, dass für diese unter Betreuung stehenden Menschen eine ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen nicht möglich ist, sofern sie (so die damalige Regelung) zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind. Mit der Einführung von § 1906 a BGB a.F. sollte nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung die beanstandete Schutzlücke dadurch geschlossen werden, dass die Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen statt an eine freiheits­ent­ziehende Unterbringung künftig an einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus anknüpft.

Die psychisch schwer erkrankte Betroffene wendet sich im Ausgangs­ver­fahren gegen die Versagung der betreu­ungs­ge­richt­lichen Genehmigung, ihre zwangsweise ärztliche Behandlung mit einem Neuroleptikum statt in einem Krankenhaus in dem von ihr bewohnten Wohnverbund durchzuführen. Für sie ist seit dem Jahr 2000 eine Betreuung, unter anderem für die Gesund­heitssorge und die Aufent­halts­be­stimmung eingerichtet. Die Beschwerde gegen die zurückweisende Entscheidung des Betreu­ungs­ge­richts war erfolglos. Auf die zugelassene Rechts­be­schwerde hat der Bundes­ge­richtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage vorgelegt, ob es mit der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar ist, dass § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme die Durchführung der Maßnahme in einem Krankenhaus auch bei solchen Betroffenen voraussetzt, die aus medizinischer Sicht gleichermaßen in der Einrichtung, in der sie untergebracht sind und in der ihre gebotene medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, zwangsbehandelt werden könnten und die durch die Verbringung in ein Krankenhaus zwecks Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

§ 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. ist teilweise mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unvereinbar.

I. Die Regelung greift in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ein. Die Bindung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus mit näher bestimmtem Versor­gungs­niveau ist zwar grundsätzlich zulässig. Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, ist aber verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt.

1. Die von der beanstandeten Regelung ausgehenden Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit müssen wie ein Eingriff in das Selbst­be­stim­mungsrecht nicht einwil­li­gungs­fähiger Betreuter in Bezug auf ihre körperliche Integrität behandelt werden. Mit der beanstandeten Regelung zielt der Staat auf die Überwindung eines der Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus entge­gen­ste­henden natürlichen Willens ab und übernimmt durch das zwingende Erfordernis einer betreu­ungs­ge­richt­lichen Genehmigung die Mitver­ant­wortung für Beein­träch­ti­gungen des Selbst­be­stim­mungs­rechts und der körperlichen Integrität.

2. Dieser Eingriff ist verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt.

a) Mit der beanstandeten gesetzlichen Regelung verfolgt der Gesetzgeber verfas­sungs­rechtlich legitime Zwecke, zu deren Erreichung die Regelung im verfas­sungs­recht­lichen Sinne auch geeignet und erforderlich ist.

Als legitimen Zweck eines Eingriffs in die von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG geschützte körperliche Unversehrtheit nicht einwil­li­gungs­fähiger Betreuter hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht im Grundsatz die Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegenüber ebendiesen Betreuten anerkannt. Diese Schutzpflicht gibt dem Staat auf, hilfs­be­dürftigen Menschen, die bei einem drohenden erheblichen gesund­heit­lichen Schaden die Notwendigkeit ärztlicher Maßnahmen nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, unter engen Voraussetzungen als ultima ratio auch unter Überwindung ihres entge­gen­ste­henden natürlichen Willens Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren. Danach muss der Gesetzgeber für Fälle, in denen drohende erhebliche Gesund­heits­be­ein­träch­ti­gungen einschließlich einer Lebensgefahr durch nicht zu eingriff­sin­tensive Behandlungen mit hohen Erfolgs­aus­sichten abgewehrt werden können, die Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme gegenüber nicht einwil­li­gungs­fähigen Betreuten vorsehen. Mit dem Kranken­haus­vor­behalt verfolgt der Gesetzgeber den verfas­sungs­rechtlich legitimen Zweck, bei der Umsetzung seiner Schutzpflicht materielle und verfah­rens­rechtliche Sicherungen zu gewährleisten. Diese ihrerseits durch grundrechtliche Schutzpflichten unterlegten Sicherungen bestehen darin, Betroffene in ihrem privaten Wohnumfeld vor Zwangsmaßnahmen zu schützen, die Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen im Krankenhaus durch multi­pro­fes­si­onelle Teams prüfen zu lassen, bereits im Vorfeld der Prüfung durch den Betreuer und das Betreu­ungs­gericht auf Fehlanreizen beruhendes Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen zu verhindern und eine angemessene fachliche Versorgung der Betroffenen sicherzustellen.

b) Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erweist sich im Hinblick auf die vorbezeichneten Anwendungsfälle indes als verfas­sungs­rechtlich unver­hält­nismäßig im engeren Sinne. Die verfas­sungs­rechtliche Angemessenheit und damit die Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen.

aa) Das Gewicht des mit der beanstandeten Regelung verbundenen Eingriffs in das Selbst­be­stim­mungsrecht und die körperliche Integrität ist hoch, in Einzelfällen sogar sehr hoch. Jede ärztliche Zwangsmaßnahme überwindet einen der Durchführung der Maßnahme entge­gen­ste­henden natürlichen Willen der betroffenen Betreuten. Durch die zwingende Vorgabe eines stationären Kranken­haus­auf­enthalts ist es Betroffenen verwehrt, auf den Durch­füh­rungsort Einfluss zu nehmen oder die ärztliche Zwangsmaßnahme durch einen Behandelnden ihres Vertrauens durchführen zu lassen. Das Eingriffs­gewicht weiter erhöhen können Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Integrität durch die konkreten ärztlichen Maßnahmen, durch einen Umgebungs­wechsel zum Beispiel bei an Demenz erkrankten Patientinnen und Patienten, durch ein gesteigertes Anste­ckungs­risiko mit spezifischen Infek­ti­o­ns­krank­heiten bei einem Aufenthalt in einem Krankenhaus, durch eine Entfremdung von der gewohnten Umgebung oder durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs zum Zweck der Verbringung in das Krankenhaus. bb) Die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke sind allerdings von hohem Gewicht. Besonders bedeutsam ist das mit der Umsetzung dieser Schutzpflichten verfolgte Ziel sicherzustellen, dass die Möglichkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwil­li­gungs­fähigen Betreuten nur unter engen Voraussetzungen und als letztes Mittel besteht. Auch das Anliegen, vermeidbare erhebliche Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit auszuschließen, ist von erheblichem Gewicht.

cc) In der Gesamtabwägung ist der Eingriff unangemessen, soweit Betreuten im Einzelfall aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen sind, erhebliche Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrschein­lichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese Beein­träch­ti­gungen bei einer Durchführung in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Kranken­hausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können. Dies dürfte nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung insbesondere in solchen Fällen in Betracht kommen, in denen ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten zum wiederholten Male durchgeführt werden und in denen sich aus vorangehenden Geneh­mi­gungs­ver­fahren gegebenenfalls besondere Erkenntnisse zu den ihnen voraussichtlich drohenden Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit ergeben. Vermeidbar sind die Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit allerdings nur, soweit in der Einrichtung, in der die Betroffenen untergebracht sind, keine anderen Beein­träch­ti­gungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten Position der Betroffenen mit vergleichbarem Gewicht drohen. In diesen Fällen ist kein überwiegendes verfas­sungs­rechtlich geschütztes Interesse erkennbar, das es rechtfertigen könnte, Betroffenen in einer Situation äußerster Schutz­be­dürf­tigkeit die Hinnahme voraussichtlich vermeidbarer erheblicher Beein­träch­ti­gungen ihrer körperlichen Unversehrtheit zuzumuten. Erst recht ist nicht hinreichend erkennbar, dass und weshalb keine alternativen oder ergänzenden Möglichkeiten gesetzlicher Regelungen bestehen sollten, um konsequent sicherzustellen, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich als letztes Mittel (ultima ratio) ergriffen werden.

dd) Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Unange­mes­senheit des mit § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. verbundenen Eingriffs über Haupt­sa­che­ver­fahren hinaus auch für Verfahren der einstweiligen Anordnung mit ihrem abgesenkten Prüfungsmaßstab bei der Sicherung des ultima-ratio-Gebots zu bejahen ist, bleibt in dieser Entscheidung offen.

II. In diesem Umfang ist die Unvereinbarkeit des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG auszusprechen. Die teilweise Unver­ein­ba­r­keits­er­klärung ist auf die inhaltsgleiche Nachfolgenorm des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. zu erstrecken. Bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, die spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026 zu treffen ist, gilt das bisherige Recht fort.

Die Entscheidung ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen.

Abweichende Meinung des Richters Wolff:

Der Auffassung des Senats, aus dem Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ergebe sich die Notwendigkeit der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine ambulante Zwangs­be­handlung, vermag ich mich nicht anzuschließen.

1. Ich stimme der Senatsmehrheit insoweit zu, als Fallge­stal­tungen denkbar sind, in denen die vom Gesetzgeber als zwingende gesetzliche Voraussetzung für eine medizinische Zwangs­be­handlung vorgesehene Behandlung in einem Krankenhaus (mit entsprechender vorausgehender Verbringung dorthin) eine Belastung beim Betroffenen auslöst, die den Eingriff im Einzelfall unver­hält­nismäßig werden lassen kann.

2. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG fordert als Abwehrrecht aber zunächst nur, dass der unver­hält­nis­mäßige Eingriff – hier die Behandlung in einem Krankenhaus – unterbleiben muss. Als Abwehrrecht fordert Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG nicht, dass der Gesetzgeber die Rechtsgrundlage für einen Eingriff schaffen muss, der diese Unver­hält­nis­mä­ßigkeit vermeidet. Unterbleibt der Eingriff insgesamt, entfällt auch die mit ihm verbundene Unver­hält­nis­mä­ßigkeit. Die vorgelegte gesetzliche Regelung gewährleistet daher ausreichenden Schutz vor unver­hält­nis­mäßigen Eingriffen und ist insoweit verfas­sungsgemäß.

3. Ein Anspruch auf Schaffung einer Eingriffs­grundlage für eine ambulante Zwangs­be­handlung für diese Fälle unver­hält­nis­mäßiger Belastung kann sich daher nur aus der Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ergeben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vermittelt die sich aus der objektiven Bedeutung der Freiheitsrechte gerade auch bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG ergebende Schutzpflicht einen Anspruch des Grund­recht­s­trägers oder der -trägerin gegen den Gesetzgeber auf Tätigwerden nur, wenn Schutz­vor­keh­rungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben.

Mit § 1906 a BGB a.F. hat der Gesetzgeber ein System der Hilfe und des Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen, die die Erfor­der­lichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln können, geschaffen. Dies genügt wegen des Spielraums des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Regeln grundsätzlich.

Angesichts der unsicheren Tatsa­chen­grundlage hinsichtlich der Belas­tungs­wir­kungen des Eingriffs, der möglichen Erfolge der in Rede stehenden Behandlungen, der Belas­tungs­wirkung der Verbringung ins Krankenhaus, der Belas­tungs­wirkung der in Rede stehenden Alter­na­tiv­be­hand­lungen und der sich hieraus ergebenden Risiken sowie der Uneinigkeit der sachver­ständigen Gruppen sehe ich mich nicht in der Lage, eine die Schutzpflicht verletzende, offensichtlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Rechtslage anzunehmen. Durch die Einführung weiterer (auch noch so eng gefasster) Formen der Zwangs­be­handlung wird nach meiner Einschätzung vielmehr eine Gefahr der Absenkung der materiellen Eingriffs­schwelle begründet. Ob diese Gefahr der Absenkung des Schutzstandards hinzunehmen ist, hat bei einer so unsicheren Erkennt­nis­grundlage, wie sie hier vorliegt, ausschließlich der Gesetzgeber zu entscheiden.

Die fehlende Durch­führ­barkeit der medizinischen Zwangs­be­handlung beruht in diesen Fällen letztlich auf einem Respekt vor dem natürlichen Willen, der verfas­sungs­rechtlich auch hier Ausdruck des durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit geschützten Selbst­be­stim­mungs­rechts Betroffener ist, in das auch unter diesen Voraussetzungen im Falle einer Zwangs­be­handlung eingegriffen wird.

Dies zugrunde gelegt, wäre auf die Vorlage des Bundes­ge­richtshofs zu antworten, dass die vorgelegte Norm (§ 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F.) verfas­sungsgemäß war.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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