23.11.2024
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Urteil18.07.2012Bundesverfassungsgericht1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2012, 3020Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2012, Seite: 3020
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Bundesverfassungsgericht Urteil18.07.2012

Existenz­si­chernde Geldleistungen für Asylbewerber sind zu niedrig bemessen und daher menschen­un­würdigBVerfG erklärt Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz für nicht verfas­sungsgemäß

Die Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz sind mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar. Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preiss­tei­ge­rungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine reali­täts­ge­rechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenz­si­chernde Berechnung ersichtlich. Dies geht aus einer Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hervor.

Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde mit Wirkung ab 1. November 1993 ein Gesetz zum Minde­st­un­terhalt von bestimmten ausländischen Staats­an­ge­hörigen geschaffen, das außerhalb des für Deutsche und diesen Gleichgestellte geltenden materiellen Rechts deutlich abgesenkte Leistungen festsetzte und vorrangig Sachleistungen anstelle von Geldleistungen vorsah. Das Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz stand im Kontext der Bemühungen der damaligen Bundesregierung in den Jahren 1990 bis 1993, die damals relativ hohe Zahl der Flüchtlinge nach Deutschland zu begrenzen, einem Missbrauch des Asylrechts entge­gen­zu­treten und die Kosten für die Aufnahme und allgemeine Versorgung der Flüchtlinge gering zu halten sowie vorrangig Sachleistungen auszugeben.

Hintergrund

Der persönliche Anwen­dungs­bereich des Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setzes wurde im Laufe der Jahre ausgeweitet. Dieses Gesetz findet heute auf Menschen in rechtlich und tatsächlich sehr unter­schied­lichen Lebenslagen Anwendung. Leistungs­be­rechtigte nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz sind Asylsuchende, Kriegs­flüchtlinge und andere im Besitz einer Aufent­halt­s­er­laubnis befindliche Personen, Geduldete und vollziehbar Ausrei­se­pflichtige sowie deren Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder.

Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz ist Sonderregelung zu Sozia­l­leis­tungen

Das Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz ist eine Sonderregelung zu den Sozia­l­leis­tungen, die neben dem SGB II bzw. SGB XII gilt. Das Gesetz unterscheidet zwischen den Grundleistungen (§ 3 AsylbLG), den Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt (§ 4 AsylbLG) sowie den sonstigen Leistungen (§ 6 AsylbLG). Zudem sieht § 2 AsylbLG vor, dass Menschen nach einer vom Gesetzgeber mehrfach verlängerten Vorbezugszeit von Grundleistungen höhere „Analo­g­leis­tungen“ entsprechend den Vorschriften des SGB XII erhalten.

Beträge für Geldleistungen seit Inkrafttreten des Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setzes unverändert geblieben

Die Grundleistungen in Form von Geldleistungen sind Gegenstand der Vorlagefragen. Der Gesetzgeber hat in § 3 AsylbLG vorrangig Sachleistungen vorgesehen, die nach Absatz 2 aber durch Geldleistungen ersetzt werden können. Für diese Geldleistungen sind Beträge ausgewiesen, die seit Inkrafttreten des Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setzes unverändert geblieben sind, obwohl das heute zuständige Bundes­mi­nis­terium für Arbeit und Soziales mit Zustimmung des Bundesrates die Beträge nach § 3 Abs. 3 AsylbLG jeweils zum 1. Januar eines Jahres neu festzusetzen hat, wenn und soweit dies unter Berück­sich­tigung der tatsächlichen Lebens­hal­tungs­kosten zur Bedarfsdeckung erforderlich ist.

Die Vorlagen des Gerichts gehen auf folgende Ausgangs­ver­fahren zurück:

Sachverhalt im Verfahren 1 BvL 10/10

Der 1977 geborene Kläger reiste 2003 in die Bundesrepublik Deutschland ein, beantragte erfolglos Asyl und wird seither geduldet (§ 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Er hielt sich seitdem in einer Gemein­schafts­un­terkunft auf und erhielt Grundleistungen nach § 3 AsylbLG, zuletzt in Höhe von 224,97 Euro. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus einem Geldbetrag nach § 3 Abs. 1 AsylbLG in Höhe von 40,90 Euro und Leistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG in Höhe von 184,07 Euro, wovon 15,34 Euro auf die Stromkosten für die Unterkunft entfielen. Mit seiner Klage beantragte der Kläger höhere Leistungen. Das Sozialgericht wies die Klage ab.

Landes­so­zi­al­gericht sieht in Vorschriften Verstoß gegen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums

Daraufhin erhob der Kläger Berufung zum Landes­so­zi­al­gericht. Dieses hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 sowie § 3 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 AsylbLG mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Vorlagegericht ist der Auffassung, diese Vorschriften verstießen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Die dem Kläger gewährte Grundleistung liege um gut 31 % unter den Leistungen, die das Existenzminimum nach dem SGB II und SGB XII sicherstellen sollen, und sei damit - vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 9. Februar 2010 (BVerfGE 125, 175) - evident unzureichend. Dies könne nicht mit Besonderheiten der Situation von Asylbe­wer­be­rinnen und Asylbewerbern gerechtfertigt werden. Aber auch wenn die Leistungen an den Kläger nicht als evident unzureichend bewertet würden, seien die Bedarfe, die dieser Leistung zugrunde liegen müssen, nicht nach einer verfas­sungs­gemäßen Methode ermittelt worden. Für das Landes­so­zi­al­gericht kommt es auch entschei­dungs­er­heblich auf die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Grundleistung an.

Sachverhalt im Verfahren 1 BvL 2/11

Die am 12. September 2000 geborene Klägerin mit damals ausländischer Staats­an­ge­hö­rigkeit lebt zusammen mit ihrer Mutter in einer privat angemieteten Unterkunft. 2007 wurden der Klägerin Grundleistungen nach § 3 AsylbLG in Höhe von 132,93 Euro, dann in Höhe von 178,95 Euro monatlich bewilligt. Nach erfolglosem Wider­spruchs­ver­fahren erstrebt sie mit ihrer Klage höhere Leistungen. Das Sozialgericht wies die Klage ab.

Landes­so­zi­al­gericht erbittet Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

Daraufhin erhob die Klägerin Berufung zum Landes­so­zi­al­gericht. Dieses hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 sowie § 3 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Vorlagegericht hält auch diese Vorschriften mit vergleichbarer Begründung wie im Verfahren 1 BvL 10/10 für verfas­sungs­widrig.

BVerfG erklärt Höhe der Geldleistungen für evident unzureichend

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat entschieden, dass die Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sind. Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preiss­tei­ge­rungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine reali­täts­ge­rechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenz­si­chernde Berechnung ersichtlich.

Gesetzgeber muss Neuregelung zur Sicherung des menschen­würdigen Existenz­mi­nimums treffen

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich für den Anwen­dungs­bereich des Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setzes eine Neuregelung zur Sicherung des menschen­würdigen Existenz­mi­nimums zu treffen. Bis zu deren Inkrafttreten hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht angesichts der existenz­si­chernden Bedeutung der Grundleistungen eine Überg­angs­re­gelung getroffen. Danach ist ab dem 1. Januar 2011 die Höhe der Geldleistungen auch im Anwen­dungs­bereich des Asylbe­wer­ber­leis­tungs­ge­setzes entsprechend den Grundlagen der Regelungen für den Bereich des Zweiten und Zwölften Buches des Sozial­ge­setz­buches zu berechnen. Dies gilt rückwirkend für nicht bestandskräftig festgesetzte Leistungen ab 2011 und im Übrigen für die Zukunft, bis der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Neuregelung nachgekommen ist.

Höhe der Geldleistungen muss reali­täts­gerecht bestimmt werden

Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: 1. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozial­staats­prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums. Die Höhe entsprechender Leistungen muss der Gesetzgeber festlegen. Sie darf nicht evident unzureichend sein und muss reali­täts­gerecht bestimmt werden. Dies war bereits Ausgangspunkt der Entscheidung des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zum Arbeits­lo­sengeld II im Februar 2010.

Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums steht deutschen und ausländischen Staats­an­ge­hörigen gleichermaßen zu

a) Art. 1 Abs. 1 GG begründet den Anspruch auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums als Menschenrecht. Dieses Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staats­an­ge­hörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Maßgeblich für die Bestimmung entsprechender Leistungen sind die Gegebenheiten in Deutschland, dem Land, in dem dieses Existenzminimum gewährleistet sein muss. Das Grundgesetz erlaubt es nicht, das in Deutschland zu einem menschen­würdigen Leben Notwendige unter Hinweis auf das Existenzniveau des Herkunftslandes von Hilfe­be­dürftigen oder auf das Existenzniveau in anderen Ländern niedriger als nach den hiesigen Lebens­ver­hält­nissen geboten zu bemessen. Desgleichen erlaubt es die Verfassung nicht, bei der konkreten Ausgestaltung existenz­si­chernder Leistungen pauschal nach dem Aufent­halts­status zu differenzieren; der Gesetzgeber muss sich immer konkret an dem Bedarf an existenz­not­wendigen Leistungen orientieren.

Menschen­würdiges Existenz­mi­nimums umfasst auch Mindestmaß an Teilhabe am gesell­schaft­lichen, kulturellen und politischen Leben

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischen­mensch­licher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesell­schaft­lichen, kulturellen und politischen Leben; dies sind einheitlich zu sichernde Bedarfe. Art. 1 Abs. 1 GG gibt einen solchen Leistungs­an­spruch dem Grunde nach vor. Das Sozial­staatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, seine konkrete Höhe entsprechend der tatsächlichen existenz­si­chernden Bedarfe zeit- und reali­täts­gerecht zu bestimmen.

Im Übrigen ist der Gesetzgeber auch durch weitere Vorgaben verpflichtet, die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus Völkerrecht ergeben.

Leistungen zur Existenz­si­cherung müssen fortwährend überprüft und weiter­ent­wickelt werden

b) Die Leistungen zur Sicherung einer menschen­würdigen Existenz dürfen nicht evident unzureichend sein und müssen zur Konkretisierung des grund­recht­lichen Anspruchs folgerichtig in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also reali­täts­gerecht, begründet werden können. Diese Anforderungen beziehen sich nicht auf das Gesetz­ge­bungs­ver­fahren, sondern dessen Ergebnisse. Das Grundgesetz lässt Raum für Verhandlungen und politischen Kompromiss. Es schreibt keine bestimmte Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen vor, wodurch der dem Gesetzgeber zustehende Gestal­tungs­spielraum begrenzt würde. Werden jedoch hinsichtlich bestimmter Personengruppen unter­schiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies sachlich zu rechtfertigen sein. Zudem sind die Leistungen zur Existenz­si­cherung fortwährend zu überprüfen und weiter­zu­ent­wickeln.

Beschränkung auf etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte müssen gerechtfertigt und begründet sein

Ob und in welchem Umfang der Bedarf an existenz­not­wendigen Leistungen für Menschen mit nur vorübergehendem Aufent­haltsrecht in Deutschland gesetzlich abweichend von dem gesetzlich bestimmten Bedarf anderer Hilfe­be­dürftiger bestimmt werden kann, hängt folglich allein davon ab, ob wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfe­emp­fan­genden mit Dauer­auf­ent­haltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden können. Lassen sich tatsächlich spezifische Minderbedarfe bei einem nur kurzfristigen, nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt feststellen, und will der Gesetzgeber das bei der Leistungshöhe berücksichtigen, muss er diese Gruppe so definieren, dass sie hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich kurzfristig in Deutschland aufhalten. Eine Orientierung kann der Aufent­halts­status sein, doch sind stets die tatsächlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Zudem ist eine Beschränkung auf etwaige Minderbedarfe für Kurzaufenthalte jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der tatsächliche Aufenthalt deutlich länger dauert.

BVerfG prüft, ob Leistungen auf Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berech­nungs­ver­fahren zu rechtfertigen sind

c) Dem Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenz­mi­nimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Die materielle Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind; jenseits dieser Evidenz­kon­trolle überprüft das Bundes­ver­fas­sungs­gericht, ob Leistungen jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berech­nungs­ver­fahren zu rechtfertigen sind.

2. Nach diesen Grundsätzen genügen die vorgelegten Vorschriften den Vorgaben des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums nicht.

Anpassung der Leistungssätze an Lebens­hal­tungs­kosten nie erfolgt

a) Die in § 3 AsylbLG festgelegten Geldleistungen sind evident unzureichend. Ihre Höhe ist seit 1993 nicht verändert worden, obwohl das Preisniveau in Deutschland seit diesem Jahr um mehr als 30 % gestiegen ist. Der Gesetzgeber hatte damals in § 3 Abs. 3 AsylbLG einen Anpas­sungs­me­cha­nismus vorgesehen, wonach die Leistungssätze regelmäßig an die Lebens­hal­tungs­kosten anzugleichen sind. Eine Anpassung ist jedoch nie erfolgt. Dass die Höhe der Geldleistungen heute evident unzureichend ist, zeigt sich beispielsweise auch an den Leistungen für einen erwachsenen Haushalts­vorstand im Vergleich mit der aktuellen Leistungshöhe des allgemeinen Fürsorgerechts des Zweiten und des Zwölften Buches Sozial­ge­setzbuch, deren Höhe in jüngster Zeit gerade zur Sicherung des Existenz­mi­nimums neu festgelegt wurde. Zwar sind sie nicht unmittelbar vergleichbar, jedoch ergibt sich auch bei einer bereinigten Berechnung eine Differenz von etwa einem Drittel und damit ein offen­sicht­liches Defizit in der Sicherung der menschen­würdigen Existenz.

Bestimmung der Leistungshöhe ist auf bloße Kostenschätzung gestützt

b) Die Grundleistungen in Form der Geldleistungen sind außerdem nicht reali­täts­gerecht und begründbar bemessen. Der Bestimmung der Leistungshöhe lagen damals und liegen auch heute keine verlässlichen Daten zugrunde. Die Gesetzgebung hatte sich damals auf eine bloße Kostenschätzung gestützt; auch jetzt sind keine nachvoll­ziehbaren Berechnungen vorgelegt worden oder ersichtlich. Das steht mit den Anforderungen des Grundgesetzes an die Sicherung einer menschen­würdigen Existenz nicht in Einklang.

Auch kurze Aufent­haltsdauer in Deutschland rechtfertigt keine Beschränkung der Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums

Den Geset­zes­ma­te­rialien lassen sich keine Hinweise auf eine Bemessung der Höhe der Geldleistungen entnehmen. Weder ist ersichtlich, welche Bedarfe bei kurzfristigem Aufenthalt konkret existieren noch ist beispielsweise für minderjährige Leistungs­be­rechtigte nach dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz ermittelt worden, welche besonderen kinder- und alter­ss­pe­zi­fischen Bedarfe bestehen. Die Materialien weisen lediglich die Beträge aus, die nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ausreichen sollen, um einen unterstellten Bedarf zu decken. Auch die dem Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz ersichtlich zugrunde liegende Annahme, dass eine kurze Aufent­haltsdauer die begrenzte Leistungshöhe rechtfertigt, bleibt ohne hinreichend verlässliche Grundlage. Überdies fehlt es an einer inhaltlich transparenten Darlegung dazu, dass sich die vom Asylbe­wer­ber­leis­tungs­gesetz erfassten Leistungs­be­rech­tigten typischerweise nur für kurze Zeit in Deutschland aufhalten. Der Anwen­dungs­bereich des Gesetzes ist seit 1993 mehrfach erweitert worden und umfasst heute Menschen mit sehr unter­schied­lichem Aufent­halts­status; sie halten sich überwiegend bereits länger als sechs Jahre in Deutschland auf. Eine kurze Aufent­haltsdauer oder Aufent­halts­per­spektive in Deutschland rechtfertigt es im Übrigen auch nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken, denn das Grundgesetz enthält eine einheitliche Leistungs­ga­rantie, die auch das soziokulturelle Existenzminimum umfasst. Die menschenwürdige Existenz muss ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland gesichert werden.

Menschenwürde ist migra­ti­o­ns­po­litisch nicht zu relativieren

Auch migra­ti­o­ns­po­li­tische Erwägungen, die Leistungen an Asylbe­wer­be­rinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wande­rungs­be­we­gungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungs­standards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migra­ti­o­ns­po­litisch nicht zu relativieren.

Geldleistung künftig deutlich höher als bisher

3. Aus der Überg­angs­re­gelung folgt beispielsweise für einen Haushalts­vorstand jenseits der vorrangigen Versorgung mit Sachleistungen eine deutlich höhere Geldleistung als bisher. Zur Sicherung eines menschen­würdigen Existenz­mi­nimums ist dann im Jahr 2011 anstelle von Sachleistungen für einen Monat von einer Geldleistung in Höhe von 206 Euro und einem zusätzlichen Geldbetrag für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens in Höhe von 130 Euro auszugehen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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