21.11.2024
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Bundessozialgericht Beschluss20.05.2020

"Ghettoarbeit" während der NS-Zeit auch bei Verbleib im eigenen Haus begründet Anspruch auf EntschädigungZwangslage der Verfolgten mit dem Aufenthalt in einem Ghetto vergleichbar

Das Bundes­so­zi­al­gericht hat dem Kläger, der in der Zeit des Natio­nal­so­zi­a­lismus verfolgt wurde, einen Anspruch auf eine Altersrente von der Deutschen Renten­ver­si­cherung unter Berück­sich­tigung von "Ghetto-Beitragszeiten" zugesprochen (Aktenzeichen: B 13 R 9/19 R).

Im hier vorliegenden Fall war der Kläger in der Zeit des Nationalsozialismus als Jude verfolgt worden und ging im sogenannten General­gou­ver­nement von seinem angestammten Wohnhaus aus einer Beschäftigung nach, indem er im Zeitraum von Januar 1940 bis März 1942 Reini­gungs­a­r­beiten gegen Entgelt im Sinne des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen im Ghetto (ZRBG) - hier Extraportionen Essen - durchführte.

BSG: Situation des Klägers gleichzusetzen mit zwangsweisem Aufenthalt in einem Ghetto

Die Bedingungen, unter denen dies erfolgte, sind denen eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto im Sinne des § 1 Absatz 1 Satz 1 ZRBG zumindest im Wege der Analogie gleichzustellen. Das Erfordernis der Gleichstellung folgt aus den neueren historischen Erkenntnissen über die Erschei­nungs­formen von "Ghettos" im natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Einflussbereich, die der Gesetzgeber bei der Schaffung des ZRBG noch nicht umfassend in den Blick nehmen konnte. Nur durch ihre Berück­sich­tigung kann jedoch der gewollte entschä­di­gungs­rechtliche Ausgleich innerhalb des Renten­ver­si­che­rungs­rechts hinreichend verwirklicht werden, so dass von einer planwidrigen Unvoll­stän­digkeit des Gesetzes auszugehen ist.

Keine einheitliche Definition des Begriffs "Ghetto"

Was unter einem Ghetto zu verstehen ist, ist weder im ZRBG noch in weiteren in diesem Kontext zu betrachtenden Normen definiert. Es findet sich auch kein ausreichend verfestigter und konkretisierter juristischer Sprachgebrauch. Gleiches gilt für das allgemeine Begriffs­ver­ständnis. Selbst die für die beiden größten Holocaust­for­schungs­stätten - Yad Vashem und US-Holocaust Memorial Museum - tätigen Historiker verwenden keine einheitliche Definition des Begriffs.

Keine Festlegung auf bestimmten Ghetto-Begriff

Die Normhistorie des ZRBG legt nahe, dass den Abgeordneten im Wesentlichen das "geschlossene Ghetto" vor Augen stand. Denn der Geset­zes­be­schluss 2002 war eine unmittelbare Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts zu "Ghetto-Beitragszeiten", insbesondere im "geschlossenen" "Ghetto Lodz". Eine Festlegung auf einen bestimmten Ghetto-Begriff, der einem weiten Verständnis hiervon und der Annahme einer planwidrigen Lücke entgegenstehen könnte, war hiermit aber ebenso wenig verbunden, wie mit der Änderung des ZRBG 2014. Allerdings gelangten Geschichts­wis­sen­schaftler in den Jahren nach der Verabschiedung des ZRBG zu der Erkenntnis, dass Ghettos im natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Einflussbereich unter­schied­lichste Ausprägungen und Erschei­nungs­formen hatten. Bei den meisten der bekannten über 1400 "Ghettos" handelte es sich um sogenannte "offene Ghettos", zum Teil ohne klar abgrenzbare Strukturen.

Vergleichbare Zwangslagen sind ebenfalls zu erfassen

Vor dem Hintergrund der mit dem ZRBG bewirkten entschä­di­gungs­recht­lichen Überlagerung des Renten­ver­si­che­rungs­rechts kann allein mit einem weiten Begriffs­ver­ständnis den historisch belegten unter­schied­lichen Erschei­nungs­formen von Ghettos - wie sie auch in der Praxis der Renten­ver­si­che­rungs­träger berücksichtigt werden - hinreichend Rechnung getragen werden. Die entschä­di­gungs­rechtliche Überlagerung verlangt zudem vergleichbare Zwangslagen ebenfalls zu erfassen. Nur so kann es mit dem ZRBG gelingen, das verursachte Unrecht durch die Begründung und Zahlbarmachung von Rente­n­ansprüchen in der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung zu entschädigen.

BSG: Verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen

Dieses Unrecht besteht darin, dass keine Rente­n­an­wart­schaften entstanden, obwohl die verrichteten "Ghetto-Arbeiten" unter anderen Umständen im Rahmen von renten­ver­si­che­rungs­pflichtigen Beschäftigungen geleistet worden wären und dann in aller Regel Rente­n­an­wart­schaften begründet hätten. Das ZRBG als "neuartiger Bestandteil des Rechts der Wieder­gut­machung natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Unrechts" will einen Ausgleich hierfür schaffen und ist damit trotz seiner Verankerung im Rentenrecht materiell-rechtlich als eine dieses überformende Entschä­di­gungs­re­gelung zu betrachten. Deshalb sind bei dessen Anwendung die in der Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts für das Entschä­di­gungsrecht entwickelten Ausle­gungs­grundsätze zu beachten. Es darf eine eben noch mögliche Lösung gewählt werden - und ihr gebührt der Vorzug -, die dazu führt, das verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen.

BSG bestätigt intensiven Aufent­haltszwang

Dies erlaubt die nach dem Gesetzeszweck gebotene Gleichstellung von Zwangslagen, die sich an den Besonderheiten der vom ZRBG in den Blick genommenen Situationen ausrichtet. Diese sind dadurch geprägt, dass die Verfolgten im Prozess zunehmend verstärkter Terrormaßnahmen in ihrem räumlichen Lebensbereich einem Aufent­haltszwang unterlagen, der es gleichwohl zuließ, eine von ihnen ausgeübte Tätigkeit noch als freiwillige Beschäftigung zu qualifizieren. Nach den Feststellungen des Landes­so­zi­al­ge­richts unterlag der Kläger einem derart intensiven Aufent­haltszwang.

Quelle: Bundessozialgericht, ra-online (pm/ab)

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