21.11.2024
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Bundesgerichtshof Beschluss30.07.2013

Zur Anrechnung von Schadens­ersatz­ansprüchen wegen Flugan­nul­lierung auf den Ausgleichs­an­spruch nach der Flug­gast­rechte­verordnungBGH erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH

Der Bundes­ge­richtshof hat dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage vorgelegt, ob und gegebenenfalls inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ein Schaden­ersatz­anspruch, der auf die Erstattung von zusätzlichen Reisekosten gerichtet ist, die durch die Annullierung eines gebuchten Flugs entstehen, auf den Anspruch auf eine pauschalierte Ausgleichs­leistung nach Art. 5 Abs. 1* Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 Buchst. a** der Flug­gast­rechte­verordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) anzurechnen ist.

Der Kläger des Verfahrens X ZR 111/12 buchte für sich und seine Familie bei dem beklagten Luftver­kehrs­un­ter­nehmen für den 27. März 2010 einen Flug von Berlin-Schönefeld nach Mailand-Malpensa, dessen Start für 6.35 Uhr vorgesehen war. Bei der Ankunft am Flughafen erfuhren die drei Reisenden, dass die Beklagte den gebuchten Flug annulliert hatte, und buchten bei einem anderen Luftver­kehrs­un­ter­nehmen einen Ersatzflug nach Bergamo. Da die Reisenden ein an demselben Tag um 16 Uhr in Genua ablegendes Kreuz­fahrt­schiff erreichen wollten, dies mit dem Ersatzflug jedoch nicht möglich war, fuhren sie von Bergamo über Mailand und Rom nach Civitavecchia, wo sie übernachteten und am nächsten Tag das planmäßig dort anlegende Kreuz­fahrt­schiff bestiegen.

Kläger verlangt Kosten für zusätzlichen Reiseaufwand erstattet

Der Kläger hat die Kosten für den Ersatzflug, den Weitertransport nach Civitavecchia, Übernachtung und Verpflegung sowie eine Ausgleichs­zahlung nach der Fluggastrechteverordnung geltend gemacht. Die Beklagte hat die Pflicht zur Erstattung der entstandenen Kosten, die den Ausgleichsanspruch überstiegen, anerkannt und sich wegen des Ausgleichs­an­spruchs auf Art. 12 Abs. 1*** Satz 2 der Verordnung berufen.

Sachverhalt im Verfahren X ZR 113/12

Die Klägerin des Verfahrens X ZR 113/12 buchte für sich und ihren Ehemann bei dem beklagten Luftver­kehrs­un­ter­nehmen für den 30. März 2010 einen Flug von Berlin-Schönefeld nach Nizza. Bei der Ankunft am Flughafen erfuhren die beiden Reisenden, dass die Beklagte den gebuchten Flug annulliert hatte. Die Klägerin und ihr Mann buchten daraufhin bei einem anderen Luftfahrt­un­ter­nehmen einen Flug nach Nizza, der am nächsten Tag starten sollte, fuhren mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause und nahmen am nächsten Tag den Ersatzflug. Das im Voraus gebuchte Hotelzimmer in Nizza für die auf den geplanten Ankunftstag folgende Nacht konnten sie nicht nutzen, es wurde ihnen aber in Rechnung gestellt.

Klägerin verlangt zusätzliche Reisekosten erstattet

Die Klägerin hat aus eigenem und abgetretenem Recht ihres Ehemannes die Kosten für den Ersatzflug, die Fahrtkosten vom Flughafen nach Hause, die Kosten für das nicht genutzte Hotelzimmer in Nizza und Portokosten sowie eine Ausgleichs­zahlung nach der Flugga­st­rech­te­ver­ordnung geltend gemacht. Die Beklagte erbrachte an die Klägerin die verlangte Ausgleichs­leistung und erstattete den Preis des annullierten Flugs; insoweit haben die Parteien den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Außerdem hat die Beklagte ihre Pflicht anerkannt, an die Klägerin die Summe der von ihr geltend gemachten Kosten abzüglich des erstatteten Flugpreises und der geleisteten Ausgleichs­zahlung zu zahlen. Wegen der verbleibenden Klagesumme, deren Höhe der erbrachten Ausgleichs­zahlung entspricht, hat sie sich wiederum auf Art. 12 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung berufen.

Fluggast hat Wahl zwischen pauschaler Ausgleichs­zahlung als Mindestanspruch und konkreter Schadens­be­rechnung

Das Amtsgericht hat in beiden Verfahren die Beklagte entsprechend ihrem jeweiligen Anerkenntnis verurteilt und die weitergehende Klage abgewiesen. Die gegen die Teilabweisungen gerichteten Berufungen der Kläger hatten keinen Erfolg. Der Fluggast könne zwischen der pauschalen Ausgleichs­zahlung nach Art. 7 der Verordnung als Mindestanspruch und der konkreten Schadens­be­rechnung wählen, aber nicht beide Leistungen nebeneinander verlangen. Hiergegen richtet sich in beiden Verfahren die Revision der Kläger.

BGH sieht mögliche wechselseitige Anrechnung von Ausgleichs- und Schaden­s­er­satz­ansprüchen in Rechtsprechung bis ungeklärt

Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist insoweit bisher lediglich geklärt, dass ein Schaden­er­satz­an­spruch dann nicht auf den Ausgleichs­an­spruch angerechnet werden kann, wenn er darauf gestützt wird oder werden könnte, dass das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen seine Unterstützungs- und Betreu­ungs­pflichten nach Art. 8**** oder Art. 9***** der Verordnung verletzt hat, insbesondere indem es keinen Ersatzflug angeboten hat. Eine Verletzung dieser Pflichten haben die Berufungs­ge­richte in den Streitfällen jedoch nicht festgestellt. Der jeweils zugesprochene Schaden­s­er­satz­an­spruch beruht vielmehr allein auf nationalem deutschem Recht, nämlich der Nichterfüllung des Luftbe­för­de­rungs­vertrags durch die Annullierung des gebuchten Flugs. Ob nach Art. 12 der Verordnung in einem solchen Fall eine wechselseitige Anrechnung von Ausgleichs- und Schaden­s­er­satz­ansprüchen in Betracht kommt, sieht der Bundes­ge­richtshof als ungeklärt an.

Differenzierung bei möglicher Anrechnung

Sollte eine Anrechnung grundsätzlich möglich sein, ist des Weiteren ungeklärt, ob zwischen den Kosten der Ersatz­be­för­derung zum Endziel der Flugreise und weiteren Kosten­po­si­tionen, die in beiden Verfahren von den Klägern geltend gemacht worden sind (Weiterreise nach Civitavecchia im ersten Fall, nutzlos aufgewendete Hotelkosten im zweiten), zu differenzieren ist. Art. 5 der Verordnung könnte zu entnehmen sein, dass das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen neben der Ausgleichs­zahlung lediglich zur vollständigen Erstattung der Art. 8 und 9 der Verordnung unterfallenden Kosten­po­si­tionen verpflichtet sein soll. Die Anrechnung könnte aber auch hinsichtlich sämtlicher Kosten­po­si­tionen ausgeschlossen sein, da der nach den Entscheidungen des Gerichtshofs mit der Ausgleichs­zahlung verfolgte Zweck, infolge des Zeitverlusts eingetretene Unannehm­lich­keiten auszugleichen, eine solche Differenzierung nicht zwingend erfordert, wenn die Reisenden - wie in den Streitfällen - auch mit dem Ersatzflug erst mit erheblicher Verspätung am Endziel angekommen sind.

Voraussetzungen für mögliche Anrechnung des Schaden­s­er­satz­an­spruchs

Sollte - jedenfalls teilweise - eine Anrechnung des Schaden­s­er­satz­an­spruchs auf den Ausgleichs­an­spruch möglich sein, ist schließlich zu klären, ob das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen die Anrechnung ohne weiteres vornehmen kann oder ob sie von weiteren Voraussetzungen abhängig ist. In Betracht kommen drei Möglichkeiten: 1. Das Luftver­kehrs­un­ter­nehmen kann ein Recht zur Anrechnung haben; der Verzicht hierauf wäre dann eine Kulanzleistung. 2. Die Frage der Anrechenbarkeit ist - ebenso wie die Gewährung eines weitergehenden Schaden­s­er­satz­an­spruchs selbst (Art. 12 Satz 1 der Verordnung) - der Entscheidung des nationalen Gesetzgebers vorbehalten. 3. Die Gerichte entscheiden über die Anrechnung im Einzelfall unter Berück­sich­tigung sich aus dem Unionsrecht (der Verordnung) ergebender Wertungen.

Anrechnung von Ersatz­leis­tungen für materielle Schäden auf immaterielle Nachteile nach deutschen Recht nicht möglich

Sollte über die Anrechnung nach nationalem Recht zu entscheiden sein, kommt es schließlich darauf an, welche Beein­träch­tigung die Ausgleichs­zahlung nach Art. 7 der Verordnung kompensieren soll. Denn nach deutschem Recht könnten Ersatz­leis­tungen für den materiellen Schaden auf immaterielle Nachteile nicht angerechnet werden und umgekehrt. Daher schiede eine Anrechnung aus, wenn die Ausgleichs­zahlung nach Art. 7 der Verordnung nur dem Ausgleich immaterieller Schäden diente, da demgegenüber mit den von den Klägern geltend gemachten Schaden­er­satz­ansprüchen Vermö­gens­schäden ausgeglichen werden.

*Art. 5 der Verordnung [Annullierung]

(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrt­un­ter­nehmen Unter­stüt­zungs­leis­tungen gemäß Artikel 8 angeboten,

b) vom ausführenden Luftfahrt­un­ter­nehmen Unter­stüt­zungs­leis­tungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unter­stüt­zungs­leis­tungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und

c) vom ausführenden Luftfahrt­un­ter­nehmen ein Anspruch auf Ausgleichs­leis­tungen gemäß Artikel 7 eingeräumt [...]

**Art. 7 der Verordnung [Ausgleichs­an­spruch]

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichs­zah­lungen in folgender Höhe: [...]

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger [...]

***Art. 12 der Verordnung [Weitergehender Schadensersatz]

Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schaden­s­er­satz­an­spruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichs­leistung kann auf einen solchen Schaden­s­er­satz­an­spruch angerechnet werden.

****Art. 8 der Verordnung [Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung]

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) - der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugschein­kosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit

- einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühest­mög­lichen Zeitpunkt,

b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reise­be­din­gungen zum frühest­mög­lichen Zeitpunkt oder

c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reise­be­din­gungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze. [...]

*****Art. 9 der Verordnung [Anspruch auf Betreu­ungs­leis­tungen]

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so sind Fluggästen folgende Leistungen unentgeltlich anzubieten:

a) Mahlzeiten und Erfrischungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit,

b) Hotel­un­ter­bringung, falls

- ein Aufenthalt von einer Nacht oder mehreren Nächten notwendig ist oder

- ein Aufenthalt zusätzlich zu dem vom Fluggast beabsichtigten Aufenthalt notwendig ist,

c) Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel oder Sonstiges).

[...]

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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