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Dokument-Nr. 31052

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Bundesgerichtshof Urteil12.11.2021

Bundesländer dürfen grenz­über­schreitende Wärmedämmung regelnNachbar muss den Überbau dulden

Der BGH hatte zu entscheiden, ob landes­rechtliche Regelungen, die eine grenz­über­schreitende nachträgliche Wärmedämmung von Bestandsbauten erlauben, mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Nordrhein-Westfalen, die jeweils mit vermieteten Mehrfa­mi­li­en­häusern bebaut sind. Die Giebelwand des vor mehreren Jahrzehnten errichteten Gebäudes der Klägerin steht direkt an der gemeinsamen Grundstücksgrenze, während das Gebäude der Beklagten etwa 5 Meter von der Grenze entfernt ist. Gestützt auf die Behauptung, eine Innendämmung ihres Gebäudes könne nicht mit vertretbarem Aufwand vorgenommen werden, verlangt die Klägerin von den Beklagten, dass diese die grenz­über­schreitende Außendämmung der Giebelwand der Klägerin gemäß § 23 a NachbG NW dulden.

BGH gibt Klägerin statt

Das Amtsgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der zugelassenen Revision. Die Revision hat Erfolg gehabt. Der Bundes­ge­richtshof hat das Urteil des Amtsgerichts, das der Klage vollen Umfangs stattgegeben hat, wieder­her­ge­stellt; die Beklagten müssen es nun also dulden, dass die Klägerin die Wärmedämmung anbringt. Von seinem rechtlichen Standpunkt aus hätte das Berufungs­gericht, das die einschlägige landes­rechtliche Norm des § 23 a NachbG NW für verfas­sungs­widrig hielt, schon keine Sachent­scheidung treffen dürfen. Gerichte sind dazu verpflichtet, Gesetze anzuwenden (Art. 20 Abs. 3 GG). Hält ein Gericht ein entschei­dungs­er­heb­liches Gesetz für verfas­sungs­widrig, so ist es gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dazu verpflichtet, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts einzuholen. Denn nur das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ist dazu befugt, ein nachkon­sti­tu­ti­o­nelles Gesetz für nichtig zu erklären (sog. "Verwer­fungs­monopol").

§ 23 a NachbG NW für verfas­sungsgemäß

Der Senat seinerseits hat keinen Anlass für eine Vorlage an das Bundes­ver­fas­sungs­gericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG gesehen, weil er § 23 a NachbG NW für verfas­sungsgemäß hält. Die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz der Bundesländer für Regelungen dieser Art, die in mehreren Landes­nach­ba­r­ge­setzen enthalten sind, ist gegeben. Allerdings unterfällt das private Nachbarrecht als Teil des bürgerlichen Rechts gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG der konkurrierenden Gesetz­ge­bungs­kom­petenz des Bundes. Für eine Gesetzgebung der Länder ist daher gemäß Art. 72 Abs. 1 GG nur Raum, wenn der Bund die Materie nicht erschöpfend geregelt hat. Aber selbst bei umfassender Regelung der Materie durch den Bund können die Länder Gesetze erlassen, soweit das Bundesgesetz Regelungs­vor­behalte zugunsten des Landes­ge­setz­gebers enthält. Das Nachbarrecht des Bundes regelt in § 912 BGB, unter welchen Voraussetzungen ein rechtswidriger Überbau auf das Nachba­r­grundstück im Zusammenhang mit der Errichtung eines Gebäudes geduldet werden muss. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass ein vorsätzlicher Überbau im Grundsatz nicht hingenommen werden muss.

Regelungs­vor­behalt im EGBGB erlaubt den Erlass neuer landes­ge­setz­licher Vorschriften

Aber der in Art. 124 EGBGB enthaltene Regelungs­vor­behalt erlaubt den Erlass neuer (vgl. dazu Art. 1 Abs. 2 EGBGB) landes­ge­setz­licher Vorschriften, welche das Eigentum an Grundstücken zugunsten der Nachbarn noch "anderen" als den im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmten Beschränkungen unterwerfen. Die bislang umstrittene Frage, wann eine "andere" Beschränkung vorliegt, so dass die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz der Länder besteht, lässt sich, wie der Bundes­ge­richtshof nun grundsätzlich geklärt hat, nur auf der Grundlage einer vergleichenden Gesamtwürdigung der bundes- und landes­recht­lichen Regelungen bestimmen. Das Landesrecht darf Beschränkungen vorsehen, die dieselbe Rechtsfolge wie eine vergleichbare nachbar­rechtliche Regelung des Bundes anordnen, aber an einen anderen Tatbestand anknüpfen und einem anderen Regelungszweck dienen; allerdings muss dabei die Grundkonzeption des Bundesgesetzes gewahrt bleiben. Daran gemessen sind die landes­recht­lichen Regelungen zur nachträglichen Wärmedämmung als "andere" Beschränkung anzusehen, so dass die Gesetz­ge­bungs­kom­petenz der Länder gegeben ist. Zwar besteht die Rechtsfolge wie bei § 912 BGB in der Pflicht zur Duldung eines Überbaus. Aber obwohl die landes­recht­lichen Regeln einen vorsätzlichen Überbau erlauben, beziehen sie sich tatbestandlich auf eine spezifische bauliche Situation, die sich von der in § 912 BGB geregelten Errichtung des Gebäudes unterscheidet. Sie setzen nämlich voraus, dass die Dämmung eines an der Grenze errichteten Gebäudes erst im Nachhinein erforderlich wird, und zwar durch neue öffentlich-rechtliche Zielvorgaben oder jedenfalls durch die Veränderung allgemein üblicher Standards infolge der bautechnischen Fortentwicklung. Landes­rechtliche Normen dieser Art ändern gerade nichts daran, dass Neubauten - der Grundkonzeption des § 912 BGB entsprechend - so zu planen sind, dass sich die Wärmedämmung in den Grenzen des eigenen Grundstücks befindet. Dementsprechend unterscheiden sich die jeweiligen Regelungszwecke. Das Überbaurecht des § 912 BGB soll die Zerstörung wirtschaft­licher Werte verhindern, und zwar nicht nur im Indivi­du­al­in­teresse des Überbauenden, sondern auch im volks­wirt­schaft­lichen Interesse. Die Beseitigung eines versehentlichen Überbaus bei der Errichtung eines Gebäudes lässt sich nämlich häufig nicht auf den überbauten Teil beschränken und soll nicht den Abriss eines Gebäudes bzw. Gebäudeteils nach sich ziehen. Dagegen geht es bei den Regelungen zur nachträglichen Wärmedämmung nicht darum, ob im Nachhinein ein Abriss erfolgen soll oder nicht. Sie setzen früher an und sollen dem Grund­s­tücks­ei­gentümer von vornherein einen bewussten und geplanten Überbau zu dem spezifischen Zweck der nachträglichen energetischen Gebäu­des­a­nierung ermöglichen, wenn die Grenzbebauung die Inanspruchnahme des Nachba­r­grund­stücks erforderlich macht. Damit werden ebenfalls öffentliche Interessen verfolgt, aber andere als im Rahmen des § 912 BGB; die energetische Gebäu­des­a­nierung soll nämlich zur Energie­ein­sparung führen, die schon wegen der nunmehr durch das Klima­schutz­gesetz vorgegebenen Verminderung von Treib­h­aus­ga­s­e­mis­sionen im allgemeinen Interesse liegt.

§ 23 a NachbarG NW auch verhältnismäßig

Auch in materieller Hinsicht bestehen keine verfas­sungs­recht­lichen Bedenken gegen § 23 a NachbarG NW. Der Landes­ge­setzgeber hat den ihm bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) zustehenden Gestal­tungs­spielraum eingehalten, indem er differenzierte Vorgaben zu Inhalt und Grenzen der Duldungspflicht vorgesehen hat. Die Regelung erweist sich insbesondere als verhältnismäßig. Die Inanspruchnahme des Nachba­r­grund­stücks ist erforderlich, wenn eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann. Die Verhält­nis­mä­ßigkeit im engeren Sinne wird schon dadurch gewahrt, dass die Überbauung die Benutzung des Nachba­r­grund­stücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigen darf und ein finanzieller Ausgleich erfolgen muss. Dass die § 23 a Abs. 1 NachbarG NW genannten Voraussetzungen für die Duldungspflicht in der Sache vorliegen, hatten bereits die Vorinstanzen - von den Parteien unbeanstandet - festgestellt.

Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (pm/ab)

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