18.10.2024
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Sie sehen ein altes Ehepaar auf einer Parkbank.

Dokument-Nr. 26261

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ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil02.08.2018

BGH zu den Anforderungen an die Beratungs­pflicht des Sozia­l­hil­fe­trägersDeutlich erkennbarer Beratungsbedarf in einer wichtigen renten­ver­si­cherungs­rechtlichen Frage

Mit der Frage, welche Anforderungen an die Beratungs­pflicht des Trägers der Sozialhilfe gem. § 14 Satz 1 SGB I zu stellen sind, wenn bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung wegen Erwer­bs­min­derung (§§ 41 ff SGB XII) ein dringender renten­ver­si­cherungs­rechtlicher Beratungsbedarf erkennbar ist, musste sich der Bundes­ge­richtshof befassen.

Im hier vorliegenden Fall nimmt der Kläger, der schwerbehindert ist, den beklagten Landkreis als Sozialhilfeträger unter dem Gesichtspunkt der Amtspflicht­ver­letzung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG) wegen fehlerhafter Beratung auf Schadensersatz in Anspruch.

Antrag auf laufende Leistungen der Grundsicherung aufgrund fehlendem zum Lebensbedarf deckenden Erwer­b­s­ein­kommen

Der 1984 geborene Kläger besuchte vom 1. August 1991 bis zum 31. Juli 2002 eine Förderschule für geistig Behinderte. Anschließend nahm er vom 2. September 2002 bis zum 27. September 2004 in einer Werkstatt für behinderte Menschen an berufsbildenden Maßnahmen teil. Da es ihm in der Folgezeit nicht möglich war, ein seinen Lebensbedarf deckendes Erwer­b­s­ein­kommen zu erzielen, beantragte seine zur Betreuerin bestellte Mutter im Dezember 2004 bei dem Landratsamt laufende Leistungen der Grundsicherung nach dem Gesetz über eine bedarf­s­o­ri­en­tierte Grundsicherung im Alter und bei Erwer­bs­min­derung (gültig bis zum 31. Dezember 2004) beziehungsweise nach §§ 41 ff SGB XII (gültig ab dem 1. Januar 2005).

Anspruchs­vor­aus­set­zungen für monatliche Erwer­b­s­un­fä­hig­keitsrente seit November 2004 erfüllt

Nachdem die Mutter des Klägers im Jahr 2011 von einer (neuen) Sachbe­a­r­beiterin des Landratsamts des Beklagten erstmals darüber informiert worden war, dass der Kläger einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen voller Erwer­bs­min­derung habe, bewilligte die Deutsche Renten­ver­si­cherung Bund auf entsprechenden Antrag des Klägers eine monatliche Erwer­b­s­un­fä­hig­keitsrente mit Wirkung ab 1. August 2011. In dem Rentenbescheid wurde unter anderem festgestellt, dass die Anspruchs­vor­aus­set­zungen bereits seit dem 10. November 2004 erfüllt seien.

Kläger begehrt Schadensersatz

Der Kläger verlangt Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen der vom 10. November 2004 bis 31. Juli 2011 gewährten Grundsicherung und der ihm in diesem Zeitraum bei rechtzeitiger Antragstellung zustehenden Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung. Er hat vorgetragen, der geltend gemachte Diffe­renz­schaden wäre nicht eingetreten, wenn die Bediensteten des Beklagten ihn beziehungsweise seine Betreuerin bereits im Jahr 2004 auf die Möglichkeit des Rentenbezugs hingewiesen hätte.

OLG weist Klage auf Zahlung von 50.322,61 € zurück

Das Landgericht hat der auf Zahlung von 50.322,61 € nebst Zinsen gerichteten Klage stattgegeben. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Oberlan­des­gericht unter Abänderung des erstin­sta­nz­lichen Urteils die Klage abgewiesen.

BGH hebt Urteil auf und verweist Sache zurück an Berufungs­gericht

Der Bundes­ge­richtshof hat auf die Revision des Klägers das Urteil des Oberlan­des­ge­richts aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Berufungs­ge­richts zurückverwiesen.

Hinweis auf Erwer­b­s­un­fä­hig­keits­ren­te­n­an­spruch notwendig

Soweit das Berufungs­gericht eine Amtspflicht­ver­letzung des Beklagten im Zusammenhang mit den ihm nach § 14 Satz 1 SGB I obliegenden besonderen sozia­l­recht­lichen Beratungs- und Betreu­ungs­pflichten verneint hat, hält dies einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Unter den gegebenen Umständen war anlässlich der Beantragung von Leistungen der Grundsicherung zumindest ein Hinweis vonseiten des Beklagten notwendig, dass auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Erwer­b­s­un­fä­hig­keitsrente in Betracht kam und deshalb eine Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war.

Besondere Beratungs- und Betreu­ungs­pflichten aufgrund von Kompliziertheit des Sozialrechts

Im Sozialrecht bestehen für die Sozia­l­leis­tungs­träger besondere Beratungs- und Betreu­ungs­pflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungs­systems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständ­nisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestal­tungs­mög­lich­keiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Siche­rungs­formen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Siche­rungs­systemen. Die Beratungs­pflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozia­l­leis­tungs­träger anzuwenden hat.

Hinweispflicht auch ohne konkretes Beratungs­be­gehren des Bürgers

Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozia­l­leis­tungs­träger für diesen ein zwingender renten­ver­si­che­rungs­recht­licher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungs­be­gehren zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem Renten­ver­si­che­rungs­träger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I).

Dringender Beratungsbedarf eindeutig erkennbar

Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bestand im vorliegenden Fall ein dringender Beratungsbedarf in einer wichtigen renten­ver­si­che­rungs­recht­lichen Frage. Dies war für die Grund­si­che­rungs­behörde beziehungsweise das Sozialamt des Beklagten ohne weitere Ermittlungen eindeutig erkennbar. Der zu 100 % schwer­be­hinderte Kläger hatte nach dem Besuch einer Förderschule für geistig Behinderte berufsbildende Maßnahmen erfolgreich absolviert und war anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig (versi­che­rungs­pflichtige Beschäftigung). Er war jedoch auf Grund seiner Behinderung außerstande, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen, Vermögen) zu bestreiten. In einer solchen Situation musste ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwer­bs­min­derung befasster Sachbearbeiter des Sozialamts mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozia­l­leis­tungs­systeme in Erwägung ziehen, dass bereits vor Erreichen der Regel­al­ters­grenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwer­b­s­un­fä­higkeit bestehen konnte. Es war deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Renten­ver­si­che­rungs­träger geboten.

Das Berufungs­gericht hat dahinstehen lassen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe für den geltend gemachten Zeitraum ein Rentenanspruch tatsächlich begründet war, so dass insoweit ergänzende Feststellungen zu treffen sind.

Erläuterungen
Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 2 SGB I

Soziale Rechte

...

Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

§ 14 SGB I

Beratung

1Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. ²Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind.

§ 17 SGB I

Ausführung der Sozia­l­leis­tungen

(1) Die Leistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß

1.

jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozia­l­leis­tungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält,

2.

die zur Ausführung von Sozia­l­leis­tungen erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen,

3.

der Zugang zu den Sozia­l­leis­tungen möglichst einfach gestaltet wird, insbesondere durch Verwendung allgemein verständlicher Antrags­vor­drucke und

4.

...

§ 839 BGB

Haftung bei Amtspflicht­ver­letzung

(1) 1Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. ²Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.

(2) 1Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflicht­ver­letzung in einer Straftat besteht. ²Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amts findet diese Vorschrift keine Anwendung.

(3) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.

Art. 34 GG

1Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verant­wort­lichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht. ²Bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit bleibt der Rückgriff vorbehalten. ³Für den Anspruch auf Schadensersatz und für den Rückgriff darf der ordentliche Rechtsweg nicht ausgeschlossen werden.

Quelle: Bundesgerichtshof/ ra-online

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