23.11.2024
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Dokument-Nr. 27772

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Bundesgerichtshof Urteil22.08.2019

Bundes­ge­richtshof präzisiert Schutzpflichten von Wohnheimen für Menschen mit einer geistigen Behinderung

Der Bundes­ge­richtshof hat die Schutzpflichten eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung gegenüber den Bewohnern präzisiert.

Die Beklagte des zugrunde liegenden Streitfalls ist Trägerin eines solchen Wohnheims. Die 1969 geborene Klägerin lebte dort seit März 2012. Sie ist geistig behindert (Prader-Willi-Syndrom) und hat eine deutliche Intel­li­genz­min­derung. Sie nimmt die Beklagte auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen Verbrühungen in Anspruch, die sie in der Einrichtung erlitt.

Klägerin erleidet schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln

Im April 2013 beabsichtigte die Klägerin, ein Bad zu nehmen, und bat eine der Betreuerinnen des Heimes um eine entsprechende Erlaubnis. Diese wurde ihr - wie auch schon in der Vergangenheit - erteilt. Die Klägerin ließ daraufhin heißes Wasser in eine mobile, in der Dusche bereit gestellte Sitzbadewanne ein, wobei die Tempe­ra­tur­re­gelung über einen Einhebelmischer ohne Begrenzung der Heißwas­ser­tem­peratur erfolgte. Anders als in früheren - problemlos verlaufenen - Fällen war das ausströmende Wasser so heiß, dass die Klägerin schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schrie lautstark, konnte sich aber nicht selbst aus der Situation befreien. Dies gelang erst, als ein anderer Heimbewohner ihr zur Hilfe eilte, das Wasser abließ und eine Pflegekraft herbeirief.

Klägerin leidet unter Folgen des Unfalls

Bei der nachfolgenden Heilbehandlung im Krankenhaus wurden mehrere Hauttrans­plan­ta­tionen durchgeführt. Es kam zu erheblichen Komplikationen. Unter anderem wurde die Klägerin mit einem multi­re­sis­tenten Keim infiziert. Sie ist inzwischen nicht mehr gehfähig und auf einen Rollstuhl angewiesen, weil sich so genannte Spitzfüße gebildet haben. Außerdem verschlechterte sich ihr psychischer Zustand, was sich unter anderem in häufigen und anhaltenden Schreianfällen äußert.

Klägerin hält fehlende Aufsicht für pflichtwidriges Verhalten der Bekagten

Die Klägerin machte geltend, dass das austretende Wasser annähernd 100 °C heiß gewesen sein müsse. Aber selbst eine konstante Einstellung der Wasser­tem­peratur auf "nur" 60 °C sei zu hoch. Zur Abtötung etwaiger Keime genüge es, das Wasser einmal am Tag auf 60 °C aufzuheizen. In der DIN EN 806-2* für die Planung von Trink­was­ser­in­sta­l­la­tionen werde für bestimmte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Seniorenheime eine Höchst­tem­peratur von 43 °C, in Kindergärten und Pflegeheimen sogar von nur 38 °C empfohlen. Es sei pflichtwidrig gewesen, sie ohne Aufsicht und insbesondere ohne Kontrolle der Wasser­tem­peratur ein Bad nehmen zu lassen.

OLG verneint schuldhaftes Verhalten der Beklagten

Das Landgericht wies die auf Zahlung eines Schmer­zens­geldes von mindestens 50.000 Euro und einer monatlichen Rente von 300 Euro sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden gerichtete Klage ab. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des Oberlan­des­ge­richts kann aus der DIN EN 806-2 keine Pflicht der Beklagten hergeleitet werden, die Wasse­rent­nah­me­stelle mit einer Tempe­ra­tur­be­grenzung auszustatten. Es handele sich um eine technische Regel, die die Planung von Trink­was­ser­anlagen betreffe und überdies erst 2005 und damit erst Jahrzehnte nach Errichtung des Wohnheim­ge­bäudes in Kraft getreten sei. Es könne den Mitarbeitern der Beklagten auch nicht vorgeworfen werden, die Klägerin beim Baden nicht beaufsichtigt und die Wasser­tem­peratur nicht kontrolliert zu haben. Die Klägerin habe stets problemlos allein geduscht und gebadet. Sie sei vor dem Unfall in eine Hilfs­be­da­rfs­gruppe eingestuft gewesen, die für einen relativ hohen Grad an Selbständigkeit spreche. Die Mitarbeiter der Beklagten hätten nicht ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass die Klägerin sich beim Umgang mit der Mischbatterie verbrühen könnte.

Heimbetreiber muss Heimbewohner unter Wahrung der Würde und des Selbst­be­stim­mungs­rechts vor Gefahren schützen

Der Bundes­ge­richtshof gab der Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil statt und wies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurück. Der Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbst­be­stim­mungs­rechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beein­träch­tigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.

Auch DIN-Normen können zur Wahrung von Verkehrs­si­che­rungs­pflichten herangezogen werden

In diese Einzel­fa­ll­ab­wägung können auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einzubeziehen sein, die in Hinblick auf eine bestimmte Gefahrenlage bestehen. Zwar haben DIN-Normen als technische Regeln keine normative Geltung. Da sie jedoch die widerlegliche Vermutung in sich tragen, den Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik wiederzugeben, sind sie zur Bestimmung des nach der Verkehr­s­auf­fassung Gebotenen in besonderer Weise geeignet und können deshalb regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang bestehender Verkehrs­si­che­rungs­pflichten herangezogen werden.

Heimträger muss Bewohner vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützen

Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, kann erwarten, dass der Heimträger ihn jedenfalls vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigen­ver­ant­wortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreu­ungs­personal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.

DIN-Norm sieht Einsatz von thermostatische Mischventilen oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur vor

Dementsprechend war auch der Inhalt der seit Juni 2005 geltenden DIN EN 806-2 ("Technische Regeln für Trinkwasser-Installationen - Teil 2: Planung")* in den Blick zu nehmen. Nach Satz 1 der Nr. 9.3.2 sind Anlagen für erwärmtes Trinkwasser so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist. Entsprechend wird in Satz 2 ausgeführt, dass an "Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauf­tem­pe­raturen" (z.B. Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime - die Aufzählung ist nicht abschließend) thermostatische Mischventile oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden sollten. Dabei wird in Satz 3 eine Temperatur von höchstens 43 °C empfohlen.

In Einrichtungen mit schutz­be­dürftigem Benutzerkreis sind Sicher­heits­vor­keh­rungen zur Verminderung von Verbrühungen erforderlich

Entgegen der Auffassung des Berufungs­ge­richts ist der dadurch vorgesehene Schutz vor Verbrühungen im vorliegenden Fall nicht deshalb ohne Relevanz, weil die DIN EN 806-2 erst im Juni 2005 eingeführt wurde und primär die Planung von Trink­was­ser­in­sta­l­la­tionen regelt, ohne die Nachrüstung älterer technischer Anlagen explizit vorzusehen. Denn der DIN ist über ihren unmittelbaren Anwen­dungs­bereich hinaus allgemeingültig zu entnehmen, dass bei Warmwas­ser­anlagen das Risiko von Verbrühungen besteht, wenn die Auslauf­tem­peratur mehr als 43 °C beträgt, und deshalb in Einrichtungen mit einem besonders schutz­be­dürftigen Benutzerkreis ("Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime usw.") spezielle Sicher­heits­vor­keh­rungen zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen erforderlich sind. Nach dem sicher­heits­tech­nischen Zweck der Empfehlung sollen die geschilderte apparative Tempe­ra­tur­be­grenzung oder andere geeignete Sicher­heits­vor­keh­rungen überall dort zum Einsatz kommen, wo im Rahmen einer für das Wohl der Bewohner verant­wort­lichen Einrichtung Personen leben, die auf Grund ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung nicht in der Lage sind, die mit heißem Wasser verbundenen Gefahren zu beherrschen, und deshalb ein besonderer Schutz vor Verbrühungen erforderlich ist.

OLG muss über Schutz­be­dürf­tigkeit der Klägerin neu entscheiden

Die Klägerin trug vor, nach der Art und dem Ausmaß ihrer Behinderung habe sie zu dem hiernach schutz­be­dürftigen Personenkreis gehört. Da das Berufungs­gericht hierzu noch keine Feststellungen getroffen hat, ist dieses Vorbringen im Revisi­ons­ver­fahren zugrunde zu legen. Danach hätte die Beklagte aus den vorstehenden Gründen entweder eine Begrenzung der Temperatur des austretenden Wassers entsprechend den Empfehlungen der DIN EN 806-2 technisch sicherstellen müssen. Dies wäre ohne Umbau oder Erneuerung der gesamten Heizungsanlage allein durch Austausch der Mischarmaturen in der Dusche möglich gewesen. Oder aber ohne eine solche Änderung an der Wasser­in­sta­l­lation hätte die Klägerin vor Schaden bewahrt werden müssen, indem die Temperatur des Badewassers durch eine Betreu­ungs­person der Einrichtung überprüft worden wäre. Im neuen Verfahren wird das Berufungs­gericht insbesondere Feststellungen dazu nachzuholen haben, ob der Vortrag der Klägerin zu den Auswirkungen ihrer Behinderung auf ihre Schutz­be­dürf­tigkeit zutrifft.

*DIN EN 806-2: Technische Regeln für Trinkwasser-Installationen - Teil 2: Planung

"9.3.2 Vermeidung von Verbrühungen Anlagen für erwärmtes Trinkwasser sind so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist.

An Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauf­tem­pe­raturen wie in Krankenhäusern, Schulen, Seniorenheimen usw. sollten zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen thermostatische Mischventile oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden. Empfohlen wird eine höchste Temperatur von 43° C.

Bei Duschanlagen usw. in Kindergärten und in speziellen Bereichen von Pflegeheimen sollte sichergestellt werden, dass die Temperatur 38° C nicht übersteigen kann."

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online (pm/kg)

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