15.11.2024
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Dokument-Nr. 5980

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Urteil28.04.2008BundesgerichtshofII ZR 264/06
Vorinstanzen:
  • Landgericht Düsseldorf, Urteil27.09.2005, 14c O 118/05
  • Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil26.10.2006, I-6 U 248/05
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil28.04.2008

BGH zur Haftung wegen existenz­ver­nich­tenden Eingriffs bei Insolvenz einer Gesellschaft für Perso­nal­ent­wicklung und Qualifizierung

Der Bundes­ge­richtshof hat sich mit den Anforderungen an die Haftung wegen Insolvenz einer Gesellschaft für Perso­nal­ent­wicklung und Qualifizierung befasst.

Sachverhalt

I. Der Kläger ist Insol­venz­ver­walter in dem im Juni 2003 eröffneten Insol­venz­ver­fahren über das Vermögen der G.-Gesellschaft für Perso­nal­ent­wicklung und Qualifizierung mbH (nachfolgend: Schuldnerin). Deren Gesellschafter sind die drei Beklagten, der Beklagte zu 1 ist zugleich ihr einziger Geschäftsführer. Die Beklagten zu 2 und 3 sind seit Anfang 2002 aufgrund eines Betei­li­gungs­erwerbs auch Gesellschafter der S.-GmbH, die seitdem sämtliche Komman­di­tanteile an der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen B.-KG hält. Als die B.-KG wegen ihrer finanziellen Krise Arbeitnehmer entlassen musste, vereinbarte sie im März 2002 mit dem Betriebsrat in einer Betrie­bs­ver­ein­barung/Sozialplan zur Vermeidung von Arbeits­lo­sigkeit im Zusammenhang mit den notwendigen Perso­na­l­an­pas­sungs­maß­nahmen die Gründung und den Betrieb einer betrie­bs­or­ga­ni­sa­torisch eigenständigen Einheit in Form einer Beschäftigungs- und Quali­fi­zie­rungs­ge­sell­schaft (nachfolgend: BQG). Die Tätigkeit dieser BQG - für die von vornherein die mit einem Stammkapital von 25.000,00 € gegründete Schuldnerin vorgesehen war - sollte vornehmlich durch öffentliche Gelder, insbesondere Struk­tur­kurz­a­r­bei­tergeld und Quali­fi­zie­rungs­mittel nach SGB III finanziert werden; die verbleibenden, auf ca. 25.000,00 € monatlich für die Laufzeit von höchstens zwei Jahren veranschlagten sog. Remanenzkosten - bestehend aus den Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen auf das Kurza­r­bei­tergeld, der Aufstockung des Netto­ver­dienstes auf zunächst 100 % und später auf 80 % des ursprünglichen Verdienstes der Mitarbeiter sowie dem Urlaubs- und Feier­tag­sentgelt - sollten von der B.-KG getragen werden. Auf dieser Basis schlossen insgesamt 21 Arbeitnehmer die zum Übertritt in die BQG notwendigen dreiseitigen Verträge, mit denen sie ihre Arbeits­ver­hältnisse zur B.-KG auflösten und zugleich neue Arbeits­ver­hältnisse mit der Schuldnerin begründeten.

In der Folgezeit wurden die bei der Schuldnerin im Rahmen der Entlohnung der übernommenen Arbeitnehmer anfallenden laufenden Remanenzkosten zunächst verein­ba­rungsgemäß von der B.-KG beglichen, bis diese schließlich im November 2002 wegen Zahlungs­un­fä­higkeit Antrag auf Eröffnung des Insol­venz­ver­fahrens stellte. Da der Anspruch der Schuldnerin gegen die B.-KG auf Leistung der Remanenzkosten für die übernommenen Arbeitnehmer entgegen der Branchen­üb­lichkeit weder über einen unabhängigen Treuhänder noch durch Bankbürgschaft oder sonstige gleichwertige Sicherheit abgesichert war und die Schuldnerin entsprechend ihrem speziellen Unter­neh­mens­ge­genstand als BQG nicht über sonstige Einkünfte zur Deckung dieser Kosten verfügte, musste sie Anfang 2003 ebenfalls Insolvenzantrag stellen; der Beklagte zu1 hatte als Geschäftsführer ab Ende November bis zu diesem Zeitpunkt noch Zahlungen an diverse Empfänger im Gesamtumfang von 42.215,72 € zu Lasten der Schuldnerin geleistet.

Der Kläger verlangt als Insol­venz­ver­walter von den Beklagten in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter der Schuldnerin primär aus dem Gesichtspunkt der Haftung wegen existenz­ver­nich­tenden Eingriffs bzw. materieller Unter­ka­pi­ta­li­sierung Zahlung des im Insol­venz­ver­fahren offen gebliebenen Betrages von 148.390,09 €. Das Landgericht hat der Klage auf dem Wege des Haftungs­durch­griffs wegen materieller Unter­ka­pi­ta­li­sierung stattgegeben; das Oberlan­des­gericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und dabei eine Haftung der Beklagten wegen existenz­ver­nich­tenden Eingriffs für gegeben erachtet. Mit der von dem Berufungs­gericht zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihr Klage­ab­wei­sungs­be­gehren weiter.

BGH verneint im Fall eine sog. Existenz­ver­nich­tungs­haftung

II. 1. Der II. Zivilsenat des Bundes­ge­richtshofs hat vor dem Hintergrund der jüngst neu strukturierten sog. Existenz­ver­nich­tungs­haftung (BGH, Urt. v. 16.07.2007 - II ZR 3/04 - BGHZ 173, 246 "TRIHOTEL" = BGH ändert Haftungskonzept zum sogenannten existenz­ver­nich­tenden Eingriff) im vorliegenden Fall eine Innen-Haftung der Beklagten als Gesellschafter gegenüber der Schuldnerin wegen existenz­ver­nich­tenden Eingriffs gemäß § 826 BGB verneint. Denn das - ihnen nach den Feststellungen des Berufungs­gericht anzulastende - Versäumnis, im Rahmen der dreiseitigen Verträge den Anspruch der Schuldnerin gegen die B.-KG auf Zahlung der sog. Remanenzkosten für die Aufstockung des Struk­tur­kurz­a­r­bei­ter­geldes zugunsten der übernommenen Arbeitnehmer für deren maximale Verweildauer bei der Schuldnerin entsprechend den branchen­üb­lichen Gepflogenheiten gegen eine vorzeitige Insolvenz der B.-KG abzusichern oder absichern zu lassen, stellt schon begrifflich keinen "Eingriff" in das zweckgebundene, den Gläubigern als Haftungsfonds dienende Gesell­schafts­vermögen dar. Das Unterlassen der gebotenen Absicherung steht einem Eingriff in den zweckgebundenen Haftungsfonds im Sinne eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Respektierung der Zweckbindung dieses Vermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesell­schafts­gläubiger während der Lebensdauer der GmbH nicht gleich; durch dieses Unterlassen ist das Stammkapital der Schuldnerin von den Beklagten nicht angetastet worden.

Auch keine GmbH-Gesell­schaf­ter­haftung aufgrund Unter­ka­pi­ta­li­sierung

2. Die Beklagten haften dem Kläger in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter für die Befriedigung der im Insol­venz­ver­fahren offen gebliebenen Dritt­gläu­bi­ger­for­de­rungen gegen die Schuldnerin auch nicht auf der Grundlage eines speziellen Haftungs­in­stituts der Haftung des GmbH-Gesellschafters wegen (materieller) Unter­ka­pi­ta­li­sierung der GmbH. Eine derartige Haftung wegen unzureichender Kapitalisierung der Gesellschaft sei es in Form zu geringer Eigen­ka­pi­tal­ausstattung, sei es in Gestalt einer allgemeinen Mangel­haf­tigkeit der Vermö­gens­ausstattung im weitesten Sinne ist weder gesetzlich normiert noch durch höchst­rich­terliche Rechts­fort­bildung als gesell­schafts­rechtlich fundiertes Haftungs­in­stitut anerkannt. Vielmehr ist nach Auffassung des II. Zivilsenats eine sachgerechte Lösung des Problems der materiellen Unter­ka­pi­ta­li­sierung nach wie vor allenfalls in einer Heranziehung der deliktischen Generalnorm der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung nach § 826 BGB im Einzelfall zu sehen.

3. Als Ansprüche gegen die Beklagten als Gesellschafter im Zusammenhang mit der ihnen vorgeworfenen Unterlassung der Absicherung der Remanenz­kos­te­n­ansprüche gegen Insolvenz der insoweit leistungs­pflichtigen B.-KG kamen im vorliegenden Fall allerdings nur solche in Betracht, die den betroffenen, bei Eingehung der dreiseitigen Verträge – nach dem insoweit zu unterstellenden Vorbringen des Klägers – durch Verschweigen arglistig getäuschten Arbeitnehmern aus Delikt (§§ 826, 830 BGB) oder aus Verschulden bei Vertragsschluss (§ 311 Abs.3 BGB) jeweils individuell zustehen und zu deren klageweiser Geltendmachung auch während des Insol­venz­ver­fahrens über das Vermögen der Schuldnerin nur sie selbst, nicht hingegen der hier klagende Insol­venz­ver­walter berechtigt ist. Entsprechendes gilt für die aus diesen Pflicht­wid­rig­keiten der Beklagten gegenüber den Arbeitnehmern resultierenden "sekundären" Ansprüche der Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger/Arbeits­ver­waltung und des Finanzfiskus.

BGH weist die Klage hinsichtlich des Beklagten zu 1) an das Berufungs­gericht zurück

4. Demgemäß hat der Bundes­ge­richtshof nunmehr das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage, soweit sie gegen die Beklagten zu 2 und 3 gerichtet war, endgültig abgewiesen. Lediglich hinsichtlich des Beklagten zu 1 musste die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Berufungs­gericht zurückverwiesen werden, damit dieser über die vom Kläger hilfsweise gegen den Beklagten zu 1 in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer verfolgten Haftungs­ansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG und wegen Masse­schmä­lerung aus § 64 Abs. 2 GmbHG entscheidet.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 85/08 des BGH vom 28.04.2008

der Leitsatz

BGB § 826; GmbHG § 13 Abs. 2

a) Die als besondere Fallgruppe der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung in § 826 BGB einzuordnende Existenz­ver­nich­tungs­haftung des Gesellschafters setzt einen kompen­sa­ti­o­nslosen "Eingriff" in das im Gläubi­ge­r­in­teresse zweckgebundene Gesell­schafts­vermögen der GmbH voraus (BGHZ 173, 246 - TRIHOTEL). Dem steht ein Unterlassen hinreichender Kapital­ausstattung i. S. einer "Unter­ka­pi­ta­li­sierung" der GmbH (hier: einer Gesellschaft für Perso­nal­ent­wicklung und Qualifizierung - sog. BQG) nicht gleich.

b) Für die Statuierung einer allgemeinen gesell­schafts­recht­lichen - verschul­den­s­ab­hängigen oder gar verschul­den­su­n­ab­hängigen - Haftung des Gesellschafters wegen materieller Unter­ka­pi­ta­li­sierung im Wege höchst­rich­ter­licher Rechts­fort­bildung ist bereits mangels einer im derzeitigen gesetzlichen System des GmbHG bestehenden Gesetzeslücke kein Raum. Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen unter diesem Aspekt eine persönliche Haftung des Gesellschafters nach § 826 BGB in Betracht kommt, bleibt offen.

c) Verschweigt der Gesellschafter-Geschäftsführer einer BQG im Einvernehmen mit seinen Mitge­sell­schaftern bei Abschluss der dreiseitigen Verträge den von dem sanie­rungs­be­dürftigen Unternehmen übernommenen Arbeitnehmern, dass die von der abgebenden Gesellschaft zur Aufstockung ihres Verdienstes geschuldeten sog. Remanenzkosten nicht - wie branchenüblich - gegen deren Insolvenz abgesichert sind, so haften sie den einzelnen Arbeitnehmern jeweils wegen gemein­schaft­licher sittenwidriger Schädigung gemäß §§ 826, 830 BGB persönlich auf Schadensersatz in Form des negativen Interesses. Im Insol­venz­ver­fahren über das Vermögen der BQG ist der Insol­venz­ver­walter nicht zur Geltendmachung solcher den Arbeitnehmern individuell zustehenden Delikts­ansprüche zugunsten der Masse befugt.

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