21.11.2024
21.11.2024  
Sie sehen die Ausrüstung eines Polizisten.

Dokument-Nr. 9332

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil09.03.2010

Bundes­ge­richtshof bestätigt nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nach Jugend­s­trafrechtKein verfas­sungs­recht­licher Verstoß gegen Rückwirkungs- oder Doppel­be­stra­fungs­verbot

Eine nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung ist auch bei Jugendstrafen zulässig. Die Anordnung nach § 7 Abs. 2 JGG steht im Einklang mit der Verfassung und verstößt weder gegen das verfas­sungs­rechtliche Rückwir­kungs­verbot noch gegen das Doppel­be­stra­fungs­verbot. Die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung dient einer präventiven Verhinderung zukünftiger Straftaten und stellt kein repressive, dem Schuldausgleich dienende Sanktion dar. Dies entschied der Bundes­ge­richtshof.

Mit Urteil vom 22. Juni 2009 hat das Landgericht Regensburg nachträglich die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Dabei hat es sich auf die mit Gesetz vom 8. Juli 2008 eingefügte Vorschrift des § 7 Abs. 2 Nr. 1 Jugend­ge­richts­gesetz (JGG) gestützt.

Sachverhalt

Der heute 32-jährige Verurteilte war durch das Landgericht Regensburg mit Urteil vom 29. Oktober 1999 wegen Mordes - begangen zur Befriedigung des Geschlecht­s­triebs und um eine andere Straftat zu verdecken - zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren verurteilt worden. Dieser Anlass­ver­ur­teilung lag zu Grunde, dass der Verurteilte im Alter von 19 Jahren im Juni 1997 eine 31-jährige Joggerin auf einem Waldweg in der Absicht, sie unter massiver Gewaltanwendung zu vergewaltigen und anschließend zu töten, überfallen hatte. Als sein Opfer reglos am Boden lag, nahm er von seinem Verge­wal­ti­gungs­vorhaben Abstand, legte den Genitalbereich der bereits toten oder im Sterben liegenden Frau frei und onanierte bis zum Samenerguss auf sie. Dadurch wollte der Verurteilte Macht über sein Opfer ausüben.

Einstweilige Siche­rungs­ver­wahrung nach verbüßter Haftstrafe

Der Verurteilte hat die Jugendstrafe bis zum 17. Juli 2008 vollständig verbüßt. Seit 18. Juli 2008 ist er einstweilig in der Siche­rungs­ver­wahrung untergebracht.

Strafkammer stellt unter anderem emotional instabile Persön­lich­keits­s­törung des Täters fest

Die Strafkammer, die nunmehr über die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung nach § 7 Abs. 2 JGG zu entscheiden hatte, stellte - sachverständig beraten - fest, dass bei dem Verurteilten eine multiple Störung der Sexualpräferenz mit einer sadistischen Komponente und eine emotional instabile Persön­lich­keits­s­törung besteht. Etwa seit seinem 15. Lebensjahr hat er sexuelle Gewaltfantasien, die er bei der Anlasstat abladen wollte und die er entsprechend umsetzte. Diese Fantasien sind immer noch nicht überwunden. Das Landgericht kam deshalb zu dem Ergebnis, dass der Verurteilte mit hoher Wahrschein­lichkeit in absehbarer Zeit nach seiner Entlassung aus dem Vollzug weitere schwere Straftaten der in § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG bezeichneten Art, namentlich sexuelle Gewaltdelikte bis hin zum Sexualmord, begehen wird.

Verurteilter wendet sich gegen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung

Gegen die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung wendet sich der Verurteilte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts beanstandet.

Vorschrift zur Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung nicht verfas­sungs­widrig

Der Bundes­ge­richtshof hat in der ersten höchst­rich­ter­lichen Entscheidung, die zur nachträglichen Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung bei einer Verurteilung nach Jugend­s­trafrecht gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG ergangen ist, die Revision des Verurteilten durch Urteil als unbegründet verworfen. Er hat bestätigt, dass die formellen und materiellen Anord­nungs­vor­aus­set­zungen vorliegen. Er hält die Vorschrift nicht für verfas­sungs­widrig.

Die formellen Erfordernisse sind gewahrt, da gegen den Verurteilten wegen Mordes eine Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren verhängt wurde.

Vorliegen neuer Tatsachen für nachträgliche Siche­rungs­ver­wahrung nicht erforderlich

In materieller Hinsicht erfordert die Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG weder das Vorliegen neuer Tatsachen ("Nova") noch das eines Hanges. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm, bei der der Gesetzgeber bewusst auf den davon betroffenen jungen Straftäter abgestellt hat. Wegen der bei diesem regelmäßig bestehenden Reifedefizite und der damit einhergehenden Progno­seun­si­cher­heiten hat der Gesetzgeber hier von der Möglichkeit der ursprünglichen und der vorbehaltenen Siche­rungs­ver­wahrung abgesehen und bei der nachträglichen Siche­rungs­ver­wahrung bewusst auf das Erfordernis eines Hanges verzichtet.

Siche­rungs­ver­wahrung stellt präventive Verhinderung zukünftiger Straftaten und keine dem Schuldausgleich dienende Sanktion dar

Da der Bundes­ge­richtshof vorliegend erstmals über die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung nach § 7 Abs. 2 JGG befunden hat, hat der Senat auch geprüft, ob die Vorschrift im Einklang mit der Verfassung steht. Dies hat er bejaht. Die Regelung verstößt weder gegen das verfas­sungs­rechtliche Rückwir­kungs­verbot noch gegen das Doppel­be­stra­fungs­verbot, da es sich bei der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung um eine präventive, der Verhinderung zukünftiger Straftaten dienende Maßnahme handelt und nicht um eine repressive, dem Schuldausgleich dienende Sanktion. Soweit der Vertrau­ens­schutz der betroffenen Straftäter tangiert ist, hat eine Güterabwägung zu erfolgen. Diese hat der Gesetzgeber in nicht zu beanstandender Weise dahin getroffen, dass der Schutz der Allgemeinheit vor einzelnen extrem gefährlichen jungen Straftätern überwiegt. Aufgrund der engen Begrenzung des Anwen­dungs­be­reichs des § 7 Abs. 2 JGG wahrt die Vorschrift auch den Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz. Der Gesetzgeber hat hier den Katalog der Anlasstaten noch enger als im Erwach­se­nen­strafrecht auf schwerste Verbrechen gegen Personen beschränkt und eine Verurteilung wegen einer solchen Katalogtat zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren verlangt (gegenüber der Mindest­frei­heits­strafe von fünf Jahren bei Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht). Zudem hat er die Frist zur Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 JGG auf ein Jahr verkürzt, während sie bei nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten zwei Jahre beträgt.

Das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde Nr. 19359/04) steht der vorliegenden Entscheidung nicht entgegen. Abgesehen davon, dass dieses Urteil noch nicht endgültig ist, liegt hier jedenfalls eine - unter den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für maßgeblich erachteten Kriterien - abweichende Fallgestaltung und Rechtslage vor.

Die nachträgliche Anordnung der Siche­rungs­ver­wahrung ist damit rechtskräftig.

§ 7 JGG. Maßregeln der Besserung und Sicherung

(2) Sind nach einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren wegen oder auch wegen eines Verbrechens

1. gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbst­be­stimmung oder

2. nach § 251 des Straf­ge­setz­buches, auch in Verbindung mit § 252 oder § 255 des Straf­ge­setz­buches, durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, vor Ende des Vollzugs dieser Jugendstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht nachträglich die Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstrafe ergibt, dass er mit hoher Wahrschein­lichkeit erneut Straftaten der vorbezeichneten Art begehen wird.

...

(4) Für das Verfahren und die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung nach den Absätzen 2 und 3 gelten § 275 a der Straf­pro­zess­ordnung und die §§ 74 f und 120a des Gerichts­ver­fas­sungs­ge­setzes sinngemäß. Die regelmäßige Frist zur Prüfung, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung zur Bewährung auszusetzen ist (§ 67 e des Straf­ge­setz­buches), beträgt in den Fällen der Absätze 2 und 3 ein Jahr.

Quelle: ra-online, BGH

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil9332

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI