18.10.2024
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Bundesgerichtshof Beschluss22.03.2012

BGH hebt Winnenden-Urteil wegen eines Verfah­rens­fehlers teilweise aufBelas­tungs­zeugin wurde zu Unrecht Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht zugestanden

Der Bundes­ge­richtshof hat die Verurteilung des Vaters des Amokläufers von Winnenden wegen tateinheitlich begangener fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körper­ver­letzung und wegen eines Waffendelikts aufgrund eines Verfah­rens­fehlers aufgehoben.

Das Landgericht Stuttgart hatte den Vater des Amokläufers von Winnenden am 10. Februar 2011 wegen tateinheitlich begangener fahrlässiger Tötung in 15 Fällen, fahrlässiger Körper­ver­letzung in 14 Fällen und wegen eines Waffendelikts zu der Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dagegen hatte der Angeklagte Revision eingelegt.

Eltern waren psychische Auffälligkeiten und geäußerte Tötungs­fan­tasien des Sohnes bekannt

Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte der 17 Jahre alte Sohn des Angeklagten am 11. März 2009 insgesamt 15 Personen erschossen und weitere 14 Personen durch Schüsse verletzt. Die meisten Opfer waren Schülerinnen, Schüler und Lehrerinnen der Albertville-Realschule in Winnenden. Der Amoklauf endete, als sich der Sohn selbst erschoss. Die Tatwaffe und die Munition stammten aus dem Besitz des Angeklagten, einem Sportschützen. Sein Sohn hatte die Waffe und die Munition, die der Angeklagte unverschlossen aufbewahrt hatte, unbemerkt an sich gebracht. Der Sohn war zudem psychisch auffällig, was der Vater wusste. Bei einer von den Eltern veranlassten ambulanten Behandlung in einer psychiatrischen Klinik berichtete der Sohn gegenüber der Therapeutin von Tötungs­fan­tasien. Darüber unterrichtete diese die Eltern. Der Empfehlung, den Sohn ambulant weiter zu betreuen, kamen die Eltern nicht nach, obwohl sich dessen Zustand wieder verschlechterte. Gleichwohl ermöglichte der Angeklagte seinem Sohn in der Folge Schießübungen in einem Schützenverein. Auf diese Umstände hat das Landgericht den Fahrläs­sig­keits­vorwurf gestützt; die Tat seines Sohnes sei für den Angeklagten vorhersehbar und vermeidbar gewesen.

BGH hebt Urteil des LG auf

Der Bundes­ge­richtshof hat das Urteil des Landgerichts auf eine Verfahrensrüge des Angeklagten aufgehoben. Mit dieser Rüge wurde beanstandet, dass die Verteidigung eine Belas­tungs­zeugin nicht befragen konnte.

Verteidigung blieb keine Möglichkeit Belas­tungs­zeugin zu vernehmen

Das Landgericht hat der - auf Bitte der Polizei tätigen - ehrenamtlichen Betreuerin der Familie des Amokläufers, die als Zeugin vernommen wurde, rechts­feh­lerhaft ein Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht zugebilligt. Die Betreuerin war über drei Verhand­lungstage hinweg vernommen worden. Am ersten Tag bekundete sie, der Angeklagte habe ihr gesagt, er sei von der Klinik auch über die Tötungs­fan­tasien seines Sohnes informiert worden. Dieses Wissen um die Tötungs­fan­tasien war für den Fahrläs­sig­keits­vorwurf des Landgerichts besonders bedeutsam. Anders als die übrigen Verfah­rens­be­tei­ligten konnte die Verteidigung die Betreuerin an diesem Tag jedoch nicht mehr befragen. Am zweiten Vernehmungstag verlas die Betreuerin eine von ihr vorbereitete schriftliche Erklärung, mit der sie ihre Aussage widerrief. Daraufhin leitete die Staats­an­walt­schaft gegen sie ein Ermitt­lungs­ver­fahren wegen versuchter Straf­ver­ei­telung ein. Deswegen billigte ihr das Landgericht für die weitere Vernehmung ein Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht gemäß § 55 StPO (danach muss sich ein Zeuge wegen von ihm begangener Straftaten nicht selbst belasten) zu. Am dritten Vernehmungstag bestätigte die Betreuerin zwar ihre erste Aussage, weitere Angaben machte sie im Hinblick auf das Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht aber nicht mehr. Die Verteidigung hatte deshalb auch am zweiten und dritten Vernehmungstag keine Möglichkeit, die Betreuerin zu befragen.

Belas­tungs­zeugin hätte kein Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht zugebilligt werden dürfen

Bei der Prüfung, ob der Betreuerin ein Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht zustand, hat das Landgericht rechts­feh­lerhaft angenommen, dass die Zeugin schon durch die Anfertigung der von ihr verlesenen Erklärung eine versuchte Straf­ver­ei­telung begangen habe. Dies ist rechts­feh­lerhaft. Erst mit der Verlesung der Erklärung vor Gericht bei ihrer Zeugen­ver­nehmung hat die Betreuerin gegebenenfalls eine Straf­ver­ei­telung versucht. Für Straftaten, die ein Zeuge erst durch seine Vernehmung begeht, besteht jedoch bis zum Abschluss der Vernehmung kein Auskunfts­ver­wei­ge­rungsrecht. Die Betreuerin wäre also weiter zur Aussage verpflichtet gewesen und hätte auch Fragen der Verteidigung beantworten müssen. Dieser Verfahrensfehler musste zur Aufhebung des Urteils führen. Der Bundes­ge­richtshof hat allerdings die Feststellungen zum Amoklauf selbst aufrecht­er­halten, so dass hierzu insbesondere keine Zeugen mehr gehört werden müssen.

Vorwurf der fahrlässigen Tötung bzw. fahrlässigen Körper­ver­letzung unter Umständen weiterhin gerechtfertigt

Für die neue Haupt­ver­handlung hat der Bundes­ge­richtshof darauf hingewiesen, dass der Angeklagte sich auch dann wegen fahrlässiger Tötung bzw. fahrlässiger Körper­ver­letzung strafbar gemacht haben kann, wenn ihm die Tötungs­fan­tasien seines Sohnes nicht bekannt waren. Sollte er nämlich - wie bislang festgestellt - entgegen der Empfehlung der Klinik nicht für die Weiter­be­handlung des Sohnes gesorgt und ihm dessen ungeachtet sogar Schießübungen im Schützenverein ermöglicht haben, könnte dies den Fahrläs­sig­keits­vorwurf rechtfertigen. Zudem hat der Bundes­ge­richtshof ausgeführt, dass allein schon der Verstoß gegen die spezifischen waffen­recht­lichen Aufbe­wah­rungs­pflichten den Vorwurf der Fahrlässigkeit für Straftaten begründen kann, die voraussehbare Folge einer ungesicherten Verwahrung sind.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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