23.11.2024
23.11.2024  
Sie sehen ein Justizia-Figur und im Hintergrund einen Mann am Telefon.

Dokument-Nr. 32438

Drucken
Urteil08.12.2022Bundesarbeitsgericht6 AZR 31/22
ergänzende Informationen

Bundesarbeitsgericht Urteil08.12.2022

Berück­sich­tigung der Rentennähe bei der sozialen AuswahlAuswahl­kri­terium „Lebensalter“ kann zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigt werden

Bei einer betrie­bs­be­dingten Kündigung hat die Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers anhand der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO genannten Kriterien zu erfolgen. Bei der Gewichtung des Lebensalters kann hierbei zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regel­al­tersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeits­verhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwer­be­hinderte Menschen darf insoweit nicht berücksichtigt werden.

Die 1957 geborene Klägerin war seit 1972 bei der Insol­venz­schuldnerin beschäftigt. Nach Eröffnung des Insol­venz­ver­fahrens schloss der zum Insol­venz­ver­walter bestellte Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Inter­es­se­n­aus­gleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah. Als zu kündigende Arbeitnehmerin war die Klägerin in der Namensliste genannt. Mit Schreiben vom 27. März 2020 kündigte der beklagte Insol­venz­ver­walter das Arbeits­ver­hältnis zum 30. Juni 2020. Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Der beklagte Insol­venz­ver­walter ist der gegenteiligen Ansicht. Die Klägerin sei in ihrer Vergleichs­gruppe - auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen - sozial am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 1. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeits­ver­hältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück. Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat vereinbarte der beklagte Insol­venz­ver­walter mit diesem Ende Juni 2020 wegen der nunmehr beabsichtigten Betrie­bs­s­till­legung nach Ausproduktion zum 31. Mai 2021 einen zweiten Inter­es­se­n­aus­gleich mit Namensliste. Der beklagte Insol­venz­ver­walter kündigte der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29. Juni 2020 zum 30. September 2020. Die Klägerin erhob auch gegen diese Kündigung Kündi­gungs­schutzklage.

Lebensalter darf zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigt werden

Das Arbeitsgericht hat beiden Kündi­gungs­schutz­an­trägen stattgegeben. Das Landes­a­r­beits­gericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des beklagten Insol­venz­ver­walters zurückgewiesen. Die Revision des beklagten Insol­venz­ver­walters hatte vor dem Bundes­a­r­beits­ge­richts nur teilweise Erfolg. Der Senat befand die erste Kündigung vom 27. März 2020 wie die Vorinstanzen im Ergebnis für unwirksam. Allerdings durften die Betrie­b­s­parteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl ist es, unter Berück­sich­tigung der im Gesetz genannten Auswahl­kri­terien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ist dabei ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutz­be­dürf­tigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermitt­lung­s­chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeits­ver­hält­nisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters - mit Ausnahme der Altersrente für schwer­be­hinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) - verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betrie­b­s­parteien bei dem Auswahl­kri­terium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungs­spielraum zu.

Andere Auswahl­kri­terien dürfen aber nicht außer Acht gelassen werden

Die streitbefangene Kündigung vom 27. März 2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außer­acht­lassung der anderen Auswahl­kri­terien „Betrie­bs­zu­ge­hö­rigkeit“ und „Unter­halts­pflichten“ erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war. Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29. Juni 2020 hatte die Revision des beklagten Insol­venz­ver­walters demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung ist wirksam und hat das Arbeits­ver­hältnis der Parteien mit Ablauf des 30. September 2020 aufgelöst.

Quelle: Bundesarbeitsgericht, ra-online (pm/ab)

Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil32438

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI