Die Antragstellerin ist Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP) und Abgeordnete des Landtags Rheinland-Pfalz. Mit ihrer im Juli 2020 erhobenen Klage wandte sie sich gegen den Ausschluss aus der Fraktion der FDP, der im Februar 2020 durch Beschluss der Fraktionsversammlung erfolgt war. Die antragsgegnerische Fraktion hatte den Ausschluss damit begründet, das Vertrauensverhältnis zur Antragstellerin sei so nachhaltig gestört, dass die weitere Zusammenarbeit mit ihr nicht mehr zumutbar sei. Außerdem habe die Antragstellerin das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit beschädigt. Die Antragstellerin machte zur Begründung ihrer Klage eine Verletzung ihrer Rechte als Abgeordnete durch den Fraktionsausschluss geltend.
Der Verfassungsgerichtshof wies die Klage als unbegründet zurück. Der Fraktionsausschluss sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Fraktion habe durch den Ausschluss der Antragstellerin deren aus dem Statusrecht eines Abgeordneten folgenden Anspruch auf willkürfreie Entscheidung nicht verletzt. Die Abgeordneten seien frei in der Entscheidung, mit wem und unter welchen Bedingungen sie sich zur gemeinsamen politischen Arbeit zusammenschlössen. In Wahrnehmung ihrer Mandatsfreiheit könnten die Fraktionsmitglieder grundsätzlich einen Abgeordneten auch aus ihren Reihen wieder ausschließen. Der Fraktionsausschluss setze einen rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügendes Verfahren sowie einen willkürfreien Entschluss der Fraktionsversammlung voraus.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei dem betroffenen Abgeordneten insbesondere die Möglichkeit einer Verteidigung gegen die ihm gegenüber namhaft zu machenden Vorwürfe einzuräumen. Gleichermaßen müssten die Fraktionsmitglieder so informiert werden, dass sie an der Entscheidung über den Fraktionsausschluss verantwortlich mitwirken könnten. Darüber hinaus bestünden rechtsstaatliche Mindestanforderungen betreffend die Einberufung der Fraktionsversammlung und die dortige Abstimmung über den Ausschluss.
Der vorliegend im Streit stehende Fraktionsausschluss genüge diesen formellen Anforderungen. Er sei in einem verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ausschlussverfahren beschlossen worden. Insbesondere sei der Antragstellerin in ausreichendem Maße rechtliches Gehör gewährt worden. Maßgeblich sei, dass die Antragstellerin ihren Standpunkt habe vorbringen können und die übrigen Fraktionsmitglieder sich ausreichend informiert gesehen hätten, um eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen.
In materieller Hinsicht setze der Fraktionsausschluss das Vorliegen eines "wichtigen Grundes" voraus. Als solcher komme nur ein Verhalten in Betracht, das die wesentlichen Grundlagen und Ziele der Fraktion nachhaltig beeinträchtige. Dies könne insbesondere dann der Fall sein, wenn das Fraktionsmitglied das Vertrauensverhältnis so nachhaltig gestört habe, dass den anderen Fraktionsmitgliedern die weitere Zusammenarbeit nicht mehr zugemutet werden könne. Darüber hinaus könne ein "wichtiger Grund" darin bestehen, dass ein Fraktionsmitglied durch sein Verhalten das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit nachhaltig schädige und die Außenwirkung der Fraktion damit beeinträchtige.
Bei der Beurteilung, ob das Verhalten eines Fraktionsmitglieds einen "wichtigen Grund" für einen Fraktionsausschluss darstelle, gebe es einen weiten Ermessensspielraum aufgrund der Fraktionsautonomie. Die gerichtliche Kontrolle habe daher die fraktionseigenen Wertungen zu achten und der Fraktion einen erheblichen Entscheidungsspielraum zu belassen. Es sei nicht Sache des Verfassungsgerichtshofs, seine Beurteilung an die Stelle derjenigen politischen und sonstigen, an innerfraktionellen Maßstäben ausgerichteten, Wertungen der Fraktion zu setzen. Die gerichtliche Prüfung eines "wichtigen Grundes" habe sich insgesamt auf eine Willkürkontrolle zu beschränken. Als letztlich politische Entscheidung sei der Fraktionsausschluss verfassungsrechtlich allein darauf überprüfbar, ob das Statusrecht des Abgeordneten in grundlegender Weise evident verkannt worden sei.
Gemessen an diesen Maßstäben sei der Fraktionsausschluss auch materiell verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zunächst seien die von der Fraktion über den Ausschluss zugrunde gelegten tatsächlichen Annahmen nicht evident unzutreffend. Auf dieser Entscheidungsgrundlage habe die Fraktionsversammlung sodann in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen "wichtigen Grund" für den Fraktionsausschluss bejaht. Unter Zugrundelegung des der Fraktion insoweit zukommenden Wertungsspielraums könne die Einschätzung, das Verhalten der Antragstellerin beschädige die vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Fraktion und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit, nicht als willkürlich beanstandet werden.
Die Antragsgegnerin habe es bereits willkürfrei als schweren Loyalitätsverstoß und Grundlage für die Annahme eines irreparablen Vertrauensverlusts werten können, dass die Antragstellerin ihren - fraktionsinternen - Konflikt über die Reichweite innerfraktioneller Abstimmungs- und Kooperationspflichten durch die unmittelbare Einleitung eines zivilgerichtlichen Verfahrens in die Öffentlichkeit getragen habe. Dies insbesondere deshalb, weil unklar bleibe, warum sie damit angesichts des von ihr stets behaupteten Einigungswillens Fraktionsinterna nach außen getragen habe. Darüber hinaus widerspreche es dem für die Fraktionsarbeit erforderlichen Vertrauensverhältnis, dass die Antragstellerin mit ihren Äußerungen in der Öffentlichkeit auf wesentlichen Politikfeldern nicht mit der Fraktion abgestimmte politische Vorstöße getätigt habe und die Aufarbeitung der Geschehnisse unter ihrer Mitwirkung insgesamt jedenfalls nicht "reibungslos" verlaufen sei. Mit dem Anschluss an eine Fraktion gehe der Abgeordnete eine politische Kooperationsverpflichtung ein, die eine Bereitschaft zur politischen Abstimmung erfordere. Diese Pflicht schließe auch die grundsätzliche Bereitschaft ein, gegebenenfalls persönliche inhaltliche Präferenzen zurückzustellen.
Die Pflicht zur politischen Kooperation diene zudem der "Fraktionssolidarität" bzw. "Fraktionsloyalität", abweichendes Verhalten zumindest vorab mitzuteilen und zu begründen. Dass das Verhalten der Antragstellerin dazu in Widerspruch stehe, habe die Antragsgegnerin willkürfrei annehmen können. Auch die Wertung der Antragsgegnerin, die Antragstellerin habe das Ansehen der Fraktion in der Öffentlichkeit geschädigt, halte der verfassungsgerichtlichen Willkürkontrolle stand. Dabei sei es insbesondere nicht entscheidend, wie die Antragstellerin ihre Äußerungen "gemeint" haben wolle, sondern als Abgeordnete habe sie vielmehr für die objektive Wirkung ihres Verhaltens einzustehen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 05.11.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, ra-online (pm/aw)