18.10.2024
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Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Urteil28.05.2009

VerfGH Rheinland-Pfalz: Kinder­schutz­gesetz ist verfas­sungsgemäßKeine Verletzung des Datenschutzes und des elterlichen Erzie­hungs­rechts

Der Landes­ge­setzgeber ist befugt, Eltern durch ein behördliches Einladungs- und Erinne­rungs­ver­fahren zur Inanspruchnahme von Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen anzuhalten und so Gefährdungen der Kinder­ge­sundheit sowie möglicher Vernach­läs­sigung oder Misshandlung von Kindern entge­gen­zu­wirken. Dies entschied der Verfas­sungs­ge­richtshof Rheinland-Pfalz.

Nachdem in den letzten Jahren wiederholt tragische Fälle der Vernach­läs­sigung, Verwahrlosung und Misshandlung von Kindern aufgetreten waren, haben mehrere Bundesländer Kinder­schutz­gesetze erlassen. Ziel dieser Gesetze ist die Früherkennung von Risiken für das Kindeswohl und die Sicherstellung der erforderlichen Hilfen. Insbesondere soll die Inanspruchnahme der Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen bei Kindern (U1 bis U9) gesteigert und Erkenntnisse über möglichen Hilfebedarf derjenigen Familien gewonnen werden, die nicht an Untersuchungen teilgenommen haben.

Erinnerung der Eltern an Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen

Dementsprechend sieht das rheinland-pfälzische Kinder­schutz­gesetz die Einrichtung einer Zentralen Stelle beim Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung vor. Sie erhält von den Meldeämtern die Daten der Kinder, bei denen Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen anstehen. Die Zentrale Meldestelle lädt die Erzie­hungs­be­rech­tigten zu den Untersuchungen ein und fordert sie gegebenenfalls auf, versäumte Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen nachzuholen (Einladungs- und Erinne­rungs­ver­fahren). Kommen Eltern dieser Aufforderung nicht nach, werden die Daten des Kindes an das Gesundheitsamt weitergeleitet, welches Kontakt zur betreffenden Familien mit dem Ziel aufnimmt, die Früher­ken­nungs­un­ter­suchung durchzuführen. Bleibt die Kontaktaufnahme durch das Gesundheitsamt ohne Erfolg, wird das Jugendamt über den Sachverhalt informiert. Das Jugendamt prüft unverzüglich, ob ein Hilfebedarf vorliegt, und stellt die notwendigen und geeigneten Maßnahmen zur frühen Förderung und zum Schutz von Kindern zur Verfügung.

Kläger sieht sich in seinem Recht auf informelle Selbst­be­stimmung eingeschränkt

Der Beschwer­de­führer, Vater eines im Juni 2008 geborenen Kindes, hat gegen die Bestimmungen des Landes­kin­der­schutz­ge­setzes über das Einladungs- und Erinne­rungs­ver­fahren Verfas­sungs­be­schwerde erhoben. Er macht eine Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbst­be­stimmung geltend, weil das Landes­kin­der­schutz­gesetz die Weitergabe und Nutzung perso­nen­be­zogener Daten von Kindern und Eltern durch staatliche Stellen ermöglicht. Darüber hinaus rügt er eine Verletzung des durch die Landes­ver­fassung gewährleisteten Rechts der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder.

Der Verfas­sungs­ge­richtshof wies die Verfas­sungs­be­schwerde zurück. Es handelt sich um die erste Entscheidung eines Landes­ver­fas­sungs­ge­richts zu diesem Fragenkreis.

Wohlergehen der Kinder steht im Vordergrund

Die Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung durch die Übermittlung von Daten der Meldeämter an die Zentrale Stelle sowie an die Gesundheits- und Jugendämter seien aus überwiegenden Interessen der Allgemeinheit erforderlich und verhältnismäßig. Die rheinland-pfälzische Landes­ver­fassung definiere das körperliche und seelische Wohlergehen von Kindern als überragend wichtiges Gemein­schaftsgut. Insoweit bestehe schon nach dem Wortlaut der Verfassung eine besondere staatliche Schutzpflicht. Darüber hinaus richte die Landes­ver­fassung an den Staat den weiteren Auftrag, die Erzie­hungs­arbeit der Eltern unterstützend zu überwachen. Diesem verfas­sungs­recht­lichen Schutzauftrag komme der Landes­ge­setzgeber mit den Regelungen über das Einladungs- und Erinne­rungs­ver­fahren nach.

Daten­über­mittlung stellt keine übermäßige Einschränkung des Grundrechts auf informelle Selbst­be­stimmung dar

Die aktuellen Fälle von Kindes­ver­nach­läs­sigung und -misshandlung ließen Defizite bei der frühzeitigen Erkennung und Abwehr von Gefähr­dungs­risiken und der rechtzeitigen Sicherstellung des Kindeswohls deutlich werden. Es bedürfe aber eines möglichst frühzeitigen Erkennens gefährdeter Kinder oder ihrer Eltern. Dies könne durch die Steigerung der Inanspruchnahme der Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen, die von 97 % bei der U4 auf 84 % bei der U9 deutlich zurückgehe, bewirkt werden. Zur Erreichung dieses Zieles stehe ein gleich wirksames und den Datenschutz weniger beein­träch­ti­gendes Mittel als das Einladungs- und Erinne­rungs­ver­fahren nicht zur Verfügung. Durch Aufklä­rungs­ak­tionen beispielsweise des Bundes­mi­nis­teriums für Gesundheit, des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen sowie Bonussysteme der gesetzlichen Kranken­ver­si­che­rungen sei die gewünschte nahezu lückenlose Teilnahme aller Kinder an Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen nicht erreicht worden. Die Daten­über­mittlung führe nicht zu einer übermäßigen Einschränkung des Grundrechts auf informelle Selbst­be­stimmung. Der Inhalt der Informationen betreffe nicht den absolut geschützten Kernbereich privater Lebens­ge­staltung. Es handele sich um rein äußere Identi­täts­merkmale wie den Namen, das Geschlecht, den Geburtstag und -ort sowie den Wohnort. Insbesondere würden medizinisch sensible Daten oder gar Unter­su­chungs­befunde nicht übermittelt. Außerdem bestünden verfah­rens­mäßige Sicherungen zur Abmilderung der Eingriffsfolgen. Die Daten der Zentralen Stelle seien getrennt von den sonstigen Daten des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung zu halten und durch besondere technische und organi­sa­to­rische Maßnahmen vor unbefugter Verarbeitung zu schützen. Sie seien bei Erreichen des verfolgten Zwecks, spätestens aber sechs Monate nach Eingang der Unter­su­chungs­be­stä­tigung zu löschen. Schließlich bestehe eine gesetzliche Verpflichtung der Landesregierung, dem Landtag regelmäßig - erstmals im Jahre 2010 - über die Umsetzung und die Auswirkungen des Kinder­schutz­ge­setzes aufgrund einer wissen­schaft­lichen Evaluation zu berichten. Hieran werde auch der Landes­be­auf­tragte für den Datenschutz beteiligt.

Eingriff in Erziehungsrecht der Eltern ist im Hinblick auf Kindeswohl gerechtfertigt

Das Einladungs- und Erinne­rungs­ver­fahren sei des Weiteren mit dem von der Landes­ver­fassung garantierten natürlichen Recht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder vereinbar. Bei der Kindererziehung komme den Eltern im Verhältnis zum Staat der Vorrang zu. Neben dem Recht zur Ausübung der Eltern­ver­ant­wortung bestehe gegenüber den Kindern aber auch eine Pflicht der Eltern zu einer am Kindeswohl ausgerichteten Erziehung. Denn das Elternrecht sei ein Recht im Interesse des Kindes. Ergänzend hätten nach der Landes­ver­fassung Staat und Gemeinden ausdrücklich die Aufgabe der Überwachung und Unterstützung der Eltern bei der Ausübung der Erziehung. Zur Wahrnehmung dieses Wächteramtes dürfe sich der Staat auch vor dem Eintritt von Verletzungen des Kindeswohls Informationen verschaffen, um helfen und schützen zu können. Der damit verbundene Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern sei im Hinblick auf das Kindeswohl gerechtfertigt und verhältnismäßig. Denn die Bedeutung der Entschlie­ßungs­freiheit der Eltern trete bei Wahrnehmung ihrer Erzie­hungs­aufgabe regelmäßig in den Hintergrund, wenn Belange der Gesundheit ihrer Kinder betroffen seien. Dies gelte umso mehr, wenn es um die für Eltern kostenlose Durchführung von Früher­ken­nungs­un­ter­su­chungen gehe, die wegen ihrer Bedeutung für das Kindeswohl selbst­ver­ständlich sein sollte.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 04/09 des VerfGH Rheinland-Pfalz vom 24.06.2009

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