24.11.2024
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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil26.07.2007

Keine Befreiung von der Schulpflicht aus christlichen Gründen

Das Verwal­tungs­gericht Stuttgart hat die Klage einer Familie bibeltreuer Christen (Angehörigen der Gemeinde der Evangeliums-Christen Baptisten) auf Befreiung ihres Kindes von der allgemeinen gesetzlichen Schulpflicht abgewiesen.

Die klagenden Eltern stellten 2004 den Antrag, ihre am 02.08.1995 geborene Tochter von der Schulpflicht zu befreien; zugleich sollte der bisher erfolgte Hausunterricht für die Tochter gestattet werden. Die Eltern beriefen sich auf ihre Grundrechte auf Glaubens­freiheit und auf religiöse Erziehung der Kinder. Diese religiöse Erziehung sei in öffentlichen Schulen nicht gewährleistet. In der öffentlichen Schule werde lediglich die Liebe zu den Menschen - nicht zu Gott -, statt Unterordnung unter die Obrigkeit unter dem Etikett des mündigen Bürgers die ständige Rebellion und das unablässige Hinterfragen von Autorität gelehrt. Statt Schamhaftigkeit erfolge Sexualerziehung schon ab der 2. Klasse, statt Keuschheit erfolge eine verfrühte sexuelle Aufklärung und werde das Recht eines jeden Jugendlichen auf sexuelle Betätigung vermittelt. Statt vor Zauberei zu warnen, würden Hexen­ge­schichten empfohlen und esoterische Praktiken wie Mandala-Malen geübt. Statt der biblischen Schöp­fungs­ge­schichte werde die Evolu­ti­o­ns­theorie, nicht als Theorie sondern als wissen­schaftlich bewiesen, gelehrt. Die Schul­auf­sichts­be­hörden lehnten den Antrag unter Hinweis auf den ebenfalls im Grundgesetz festgelegten Lehr- und Erzie­hungs­auftrag des Staates ab.

Das Verwal­tungs­gericht entschied, die Ablehnung des staatlichen Schulsystems aus religiösen Motiven stelle keinen besonderen Fall dar, wie ihn das Schulgesetz für eine ausnahmsweise Befreiung von der allgemeinen Grund­schul­pflicht voraussetze. Der Lehr- und Erzie­hungs­auftrag der allgemeinen staatlichen Schulen aus Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes stehe gleichrangig, aber doch mit beschränkender Auswirkung neben den grundgesetzlich garantierten Rechten der Kläger auf Glaubens­freiheit und auf elterliche Pflege und Erziehung. Der Lehr- und Erzie­hungs­auftrag umfasse nicht nur die Wissens­ver­mittlung, sondern auch die Erziehung der Kinder zu selbst­ver­ant­wort­lichen Mitgliedern der Gesellschaft. Das Grundgesetz gehe insoweit einer unterschiedslos von allen Kindern besuchten Grundschule aus, was in besonderem Maße erste gesell­schaftliche Erfahrungen zulasse und den Erwerb sozialer Kompetenzen fördere. Die mit der Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule verbundenen Eingriffe in die genannten Grundrechte der Kläger seien auch verhältnismäßig. Denn die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten "Paral­lel­ge­sell­schaften" entge­gen­zu­wirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Die mit dem Besuch der Schule verbundene Konfrontation mit den Auffassungen und Wertvor­stel­lungen einer zunehmend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft sei den Klägern trotz des Widerspruchs zu ihren eigenen religiösen Überzeugungen zuzumuten.

In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass die Erfüllung des staatlichen Erzie­hungs­auftrags auch dem geschützten Interesse des Kindes diene. Die Tochter der Kläger sei zur Zeit ihrer Grund­schul­pflich­tigkeit noch nicht in der Lage gewesen, die Konsequenzen der Entscheidung ihrer Eltern abzuschätzen. Wenn die Eltern geltend machten, ihr Erzie­hungs­konzept, in dem Gehorsam und die Achtung göttlicher, elterlicher und staatlicher Autorität von zentraler Bedeutung seien, kollidiere mit dem staatlichen Unterricht an öffentlichen Schulen, der die Souveränität und Selbst­ver­ant­wort­lichkeit des Kindes und ein Hinterfragen von Autorität in den Mittelpunkt stelle, spreche dies eher für die Schul­be­suchs­pflicht ihrer Tochter.

Die Tochter erfülle ihre gesetzliche Pflicht zum Besuch einer weiterführenden Schule auch nicht dadurch, dass sie seit Anfang 2005 eine - nicht genehmigte - „Christliche Grund- und Hauptschule“ besuche. Denn dort sei nicht für ihre Erziehung und Unterrichtung ausreichend gesorgt, wie das Schulgesetz für eine ausnahmsweise Befreiung von der Pflicht zum Besuch einer weiterführenden Schule voraussetze. Dabei komme es nicht auf den Kenntnis-, oder Leistungsstand des Kindes, sondern allein darauf an, ob in der Erziehung und Unterrichtung durch die Lehrenden selbst ein gewisses Niveau erreicht sei. Es sei in keiner Weise nachvollziehbar dargelegt, dass die Lehrenden der nicht anerkannten „Christlichen Grund- und Hauptschule“, die fachlichen Fähigkeiten, die von Lehrern an weiterführenden Schulen zu erwarten seien, erfüllten oder ihre Befähigung mit diesen Fähigkeiten auch nur annähernd vergleichbar wäre. Dieses Niveau könne nicht gewahrt sein, wenn Mathematik und Natur­wis­sen­schaften von einer Medizinisch-Technischen Laboras­sis­tentin, Erdkunde, Wirtschaftskunde, Gemein­schaftskunde und Geschichte von einer Behör­de­n­as­sis­tentin für Umweltschutz und Landschafts­pflege unterrichtet würden und wenn die Qualifikation für Engli­sch­un­terricht sich in der Erlangung des Abiturs - mit einer mittleren Bewertung des Faches Englisch zwischen 8 und 10 Punkten - erschöpfe. Es müsse zumindest eine klar auf das jeweilige Unterrichtsfach bezogene weiterführende Ausbildung gefordert werden. Ohne eine solche Ausbildung sei ein reflektierter Umgang mit dem zu vermittelnden Stoff als Mindest­vor­aus­setzung für Wissens­ver­mittlung - jedenfalls auf dem Niveau einer weiterführenden Schule - nicht möglich.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des VG Stuttgart vom 02.08.2007

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