21.11.2024
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Verwaltungsgericht Freiburg Beschluss17.10.2007

Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit gilt auch für die NPDKundgebung der Jungen Natio­na­l­de­mo­kraten in Singen am 20.10.2007 darf vorerst stattfinden

Auch eine für verfas­sungs­feindlich angesehene Partei darf sich auf die Grundrechte berufen und demonstrieren. Das Verwal­tungs­gericht Freiburg hat ein "offensichtlich rechtswidriges" Versamm­lungs­verbot aufgehoben.

Das Verwal­tungs­gericht Freiburg hat über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden, mit dem sich der Landesverband Baden-Württemberg der Jungen Natio­na­l­de­mo­kraten gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Verbots­ver­fügung der Stadt Singen vom 10.10.2007 gewandt hat. Die Kammer hat dem Antrag - mit der Maßgabe, dass es der Stadt vorbehalten bleibt, noch einzelne Auflagen zu verhängen, soweit diese zum Ausschluss von Gefahren notwendig sind - stattgegeben. Dies bedeutet, dass die Kundgebung stattfinden darf.

Offensichtlich rechtswidriges Versamm­lungs­verbot

Das Versammlungsverbot ist offensichtlich rechtswidrig; es steht im Widerspruch zur einschlägigen verfassungs- und verwal­tungs­ge­richt­lichen Rechtsprechung.

Bloße Verdachts­momente für Gefährdung reichen nicht aus

Hinreichende Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bei Durchführung der Versammlung sind nicht ersichtlich. Für die versamm­lungs­rechtliche Gefah­ren­prognose gelten nach der ständigen Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) strenge Anforderungen; bloße Verdachts­momente und Vermutungen reichen insoweit nicht aus. Soweit die Stadt darauf hinweist, dass mit Straftaten aus der angemeldeten Veranstaltung heraus zu rechnen sei, fehlt ein hinreichend konkreter Bezug zu der geplanten Veranstaltung.

Auch soweit die Stadt auf die zwischen­zeitliche Anmeldung umfangreicher Ge­gen­de­mon­s­tra­tionen verweist und die Befürchtung hegt, unter den Gegen­de­mon­s­tranten befänden sich auch dem linken/autonomen Spektrum zuzuordnende militante Gruppen, so dass mit hoher Wahrschein­lichkeit ein gewalttätiger Schlagabtausch rechter und linker Gruppen zu erwarten sei, der aus polizeilicher Sicht nicht mehr beherrscht werden könne, lässt die Stadt die notwendige Substantiierung, insbesondere durch eine entsprechende konkrete und situa­ti­o­ns­be­zogene polizeiliche Lagebeurteilung, vermissen.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass Gefahren infolge angekündigter Gegen­de­mon­s­tra­tionen durch behördliche Maßnahmen gegen den Störer, also die Gegen­de­mon­s­tranten, die sich die Verhinderung oder Störung der zuerst angemeldeten Demonstration zum Ziel gesetzt haben, zu begegnen ist. Gegen die Versammlung als ganze darf in einer solchen Situation grundsätzlich nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingeschritten werden. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass etwaigen sich aus Gegen­ver­an­stal­tungen ergebenden Gefahren nicht durch die Erteilung von Auflagen begegnet und eine für die polizeilichen Einsatzkräfte beherrschbare Lage sichergestellt werden kann.

Auch eine für verfas­sungs­feindlich gehaltene Partei darf sich auf Versamm­lungs­freiheit berufen

Das Versamm­lungs­verbot lässt sich auch nicht auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung stützen. Die Stadt beruft sich darauf, bereits die Anschauungen des Antragstellers seien mit grund­ge­setz­lichen Wertvor­stel­lungen unvereinbar bzw. das Verbreiten neonazistischen Gedankenguts verletze grundlegende soziale und ethische Anschauungen vieler Menschen und im besonderen Maße der Bürger der Stadt, die eine liberale und weltoffene Stadt sei. Diese auf die Grund­an­schauungen des Antragstellers und den Inhalt der erwarteten demonstrativen Meinung­s­äu­ßerung abstellende Begründung des Versamm­lungs­verbots ist verfas­sungs­rechtlich nicht tragfähig. Solange das Bundes­ver­fas­sungs­gericht ein Parteiverbot bzw. die Verwirkung von Grundrechten nicht festgestellt hat, darf eine für verfas­sungs­feindlich gehaltene Partei zwar politisch bekämpft, ihre Grund­rechts­ausübung aber grundsätzlich nicht unterbunden werden.

Das Tatbe­stands­merkmal der Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann auch erfüllt sein, wenn über den bloßen Inhalt hinaus Besonderheiten der Demonstration gegeben sind, beispielsweise provokative oder aggressive Begleitumstände, die einen Einschüch­te­rungs­effekt sowie ein Klima der Gewalt­de­mon­s­tration und potentieller Gewalt­be­reit­schaft erzeugen. Dies kann z. B. bei Mitführen bestimmter Gegenstände (z. B. Lands­knecht­trommeln, Fackeln, Fanfaren, Fahnen u.ä.), beim Tragen uniformartiger Kleidungsstücke, beim Auftreten in Marschordnung oder beim Skandieren bestimmter Parolen der Fall sein. Denn das in diesem Zusammenhang einschlägige Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit schützt Aufzüge, nicht aber Aufmärsche mit parami­li­tä­rischen oder sonst einschüch­ternden Beglei­t­um­ständen. Inwieweit derartige die öffentliche Ordnung störende Begleitumstände mit der von dem Antragsteller geplanten Demonstration verbunden und inwieweit sie durch Auflagen zu unterbinden sein werden, wird erst noch abschließend von der Stadt zu beurteilen sein.

An Recht und Gesetz gebunden

Abschließend verweist die Kammer auf den Verwal­tungs­ge­richtshof Baden-Württemberg, der in einem Beschluss vom 30.04.2002 in einem ähnlichen Verfahren allgemein ausgeführt hat:

„Insgesamt hat die Stadt mit ihrer Verbots­ver­fügung die Vorgaben des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts missachtet. Indes ist sie als Teil der vollziehenden Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG (nicht anders als die Gerichte) an Gesetz und Recht und damit insbesondere an das Grundgesetz gebunden. Dieses hat die Absage an den Natio­nal­so­zi­a­lismus nicht zuletzt auch in dem Aufbau allgemeiner rechts­s­taat­licher Sicherungen dokumentiert, deren Fehlen das menschen­ver­achtende Regime des Natio­nal­so­zi­a­lismus geprägt hatte. In der Beachtung rechts­s­taat­licher Sicherungen - auch beim Umgang mit Gegnern des Rechtsstaats - sieht das Grundgesetz eine wichtige Garantie gegen das Wiedererstehen eines Unrechtsstaates. Zu den rechts­s­taat­lichen Garantien gehören die Kommu­ni­ka­ti­o­ns­frei­heiten (Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 8 GG), auch und gerade für Minderheiten (vgl. BVerfG, Beschluss v. 01.05.2001 - 1 BvQ 22/01 - = NJW 2001, 2076, 2077). Diese Garantien können nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Exekutive bestimmten Parteien oder Personen den Schutz der Grundrechte aus Art. 5 und Art. 8 GG generell vorenthält und diese immer erst durch die Inanspruchnahme der Verwal­tungs­ge­richte gesichert werden können.“

Quelle: ra-online, Pressemitteilung des VG Freiburg vom 17.10.2007

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