21.11.2024
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Sozialgericht Stuttgart Urteil28.01.2016

Gefährdung eines geistig erkrankten Kindes aufgrund unkon­trol­lierten Weglaufens rechtfertigt nicht Vergabe des Merkzeichens "aG"Wunsch nach kurzen Wegen aus Sicher­heits­gründen stellt keine Einschränkung der Fort­bewegungs­fähigkeit im Sinne der maßgeblichen Norm dar

Leidet ein Kind wegen einer schweren geistigen Erkrankung zwar an Gangstörungen, neigt aber zugleich zum unkon­trol­lierten Weglaufen und gefährdet sich somit regelmäßig selbst, so rechtfertigt dies nicht die Vergabe des Merkzeichens "aG" (außer­ge­wöhnliche Gehbehinderung). Denn der Wunsch der Erziehungs­berechtigten nach möglichst kurzen Wegen - vom Behinderten-Parkplatz etwa zum Arzt - vor allem aus Sicher­heits­gründen stellt keine Einschränkung der Fort­bewegungs­fähigkeit im Sinne der maßgeblichen Norm dar. Dies geht aus einer Entscheidung des Sozialgerichts Stuttgart hervor.

Bei der 2004 geborenen Klägerin des zugrunde liegenden Verfahrens waren zunächst wegen "hirnorganischer Anfallsleiden, Entwick­lungs­ver­zö­gerung" sowie später wegen "frühkindlichem Autismus" ein Grad der Behinderung von 100 sowie zeitweise alle Merkzeichen/Nachteils­aus­gleiche festgestellt. Im Jahr 2011 wurde von der Behörde im Hinblick auf eine dokumentierte Verbesserung der Fortbe­we­gungs­mög­lichkeit das Merkzeichen "aG" entzogen. Hiergegen wandten sich die erzie­hungs­be­rech­tigten Eltern. Das unkontrollierte, von einem Bewegungsdrang gekennzeichnete Fortbewegen sei kein echtes Gehen. Je länger eine zurückzulegende Strecke sei, desto größer sei die Gefahr eines unkon­trol­lierten Weglaufens und die damit verbundene Selbstgefährdung. Die Klägerin müsse daher auch an ihrem Rollgefährt (Buggy) festgebunden werden. Dieser Buggy sei Stütze wegen der Gangstörungen und Hindernis wegen des unkon­trol­lierten Fortbe­we­gungs­drangs zugleich.

Kind kann trotz Defiziten nicht mehr privilegiertem Personenkreis mit Merkzeichen "aG" zugeordnet werden

Das Sozialgericht Stuttgart wies die Klage ab, da die Bescheide, die das Merkzeichen entzogen haben, nicht zu beanstanden seien. Der Normzweck und die Voraussetzungen seien andere. Die schwierige Situation der Eltern könne nichts daran ändern, dass die Klägerin nicht (mehr) dem privilegierten Personenkreis zuzuordnen sei. Die Tatsache, dass sich die Klägerin beim Gehen mit einer Begleitperson sowie beim Führen an der Hand jederzeit losreißen und damit in Gefahr bringen könne, sei zwar ein potenzielles Risiko, nicht aber gleichzusetzen mit einer dauernden Einschränkung der Gehfähigkeit auf das Schwerste im geforderten Sinne wie bei Beinamputierten. Nach dem Normtext und der hierzu ergangenen aktuellen Rechtsprechung seien Einschränkungen der körperlichen Fortbewegung außerhalb eines Fahrzeugs praktisch von den ersten Schritten an maßgebend, nicht hingegen die zurückgelegte Wegstrecke. Die körperliche Fortbewegung müsse quasi vom ersten Schritt an nur mit fremder Hilfe möglich sein. Vorliegend sei hingegen der unkontrollierte Fortbe­we­gungsdrang das eigentliche Problem. Anders als beim Merkzeichen "G" seien jedoch geistige Einschränkungen etwa zur Orientierung oder eine Selbst­ge­fährdung im Normtext nicht genannt und damit auch nicht erfasst.

Quelle: Sozialgericht Stuttgart/ra-online

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