21.11.2024
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Sozialgericht Stuttgart Urteil08.11.2018

Posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung eines Rettungs­sa­ni­täters nach Einsätzen bei Amokläufen und Suiziden kann nicht als Berufskrankheit anerkannt werdenAnerkennung psychischer Gesund­heits­schäden als Wie-Berufskrankheit derzeit

Das Sozialgericht Stuttgart hat entschieden, dass ein Rettungs­sa­nitäter, der bei Amokläufen und Suiziden eingesetzt war, keinen Anspruch auf Anerkennung und Feststellung der bei ihm diagnos­ti­zierten posttrau­ma­tischen Belas­tungs­störung als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 des 7. Sozial­ge­setzbuchs (SGB VII) hat.

Der Kläger des zugrunde liegenden Falls beantragte bei der beklagten Berufs­ge­nos­sen­schaft, die von seinen behandelnden Ärzten diagnostizierte posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung als Berufskrankheit infolge seiner Tätigkeit als Rettungssanitäter u.a. mit Einsätzen beim Amoklauf von Winnenden und zwei Suiziden festzustellen.

Sachverhalt

In einem ärztlichen Entlas­sungs­bericht wurde unter anderem ausgeführt, dass der Kläger im Rettungsdienst tätig sei und als solcher viele trauma­ti­sierende Erlebnisse gehabt habe. So sei er bei Amokläufen eingesetzt worden, bei denen er emotional bereits an seine Grenzen gekommen sei. Nur gelegentlich sei es zu Nachha­l­le­r­in­ne­rungen gekommen. Die über die Jahre bereits sukzessive angestiegene Anspannung habe sich verstärkt. Als weiteres traumatisches Erlebnis erinnert der Kläger, den Suizid einer Jugendlichen, der ihn tief erschüttert habe, woraufhin er sich jedoch wieder weitgehend stabilisiert habe. Als er jedoch auf den Tag genau ein Jahr später zum Suizid der Freundin der Jugendlichen gerufen worden sei, sei es schließlich zur Dekompensation gekommen. Der Kläger könne seitdem nicht mehr richtig reagieren, es komme verstärkt zu Eskalationen, die er nur durch Rückzug vermeiden könne. Aufrecht­er­halten werde die Symptomatik durch ein zunehmendes Sinnlo­sig­keits­erleben und die mangelnde Unterstützung seitens der Strukturen und Vorgesetzten. Im Gegensatz zu den Vorbehandlern wies der Entlas­sungs­bericht keine depressive Episode aus, sondern eine posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung. Deren Kriterien seien durch eine Kumulation außer­ge­wöhn­licher Belastungen, anhaltende Nachha­l­le­r­in­ne­rungen, Alpträume und eine ausgesprochen hohe innere Bedrängnis in ähnlichen Situationen, Vermei­dungs­ver­halten in Bezug auf ähnliche Situationen, erhöhte psychische Erregung mit Ein- und Durch­schlaf­stö­rungen, erhöhter Reizbarkeit, Konzen­tra­ti­o­ns­schwie­rig­keiten und erhöhter Schreck­haf­tigkeit erfüllt. Zur weiteren Therapie werde dringend die zeitnahe Aufnahme einer konti­nu­ier­lichen ambulanten Psychotherapie, traumaadaptiert, empfohlen.

Voraussetzungen zur Einstufung einer Krankheit als Berufskrankheit

Das Sozialgericht Stuttgart wies die Klage ab und führte zur Begründung aus, dass nach den maßgebenden Vorschriften des SGB VII Berufs­krank­heiten Krankheiten seien, die die Bundesregierung durch Rechts­ver­ordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufs­krank­heiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versi­che­rungs­schutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechts­ver­ordnung solche Krankheiten als Berufs­krank­heiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufs­krank­heiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefähr­dungs­be­reichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheiten ursächlich waren oder sein können (§ 9 Abs. 1 SGB VII).

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfall­ver­si­che­rungs­träger eine Krankheit, die nicht in der Rechts­ver­ordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit als Versi­che­rungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Abs. 1 Satz 2 erfüllt sind.

Posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung keine Erkrankung der Berufs­krankheits-Liste

Die posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung gehört nicht zu den Liste­n­er­kran­kungen im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB VII. Nach der Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts genüge es für die Feststellung einer Wie-Berufskrankheit nicht, dass im Einzelfall berufsbedingte Einwirkungen die rechtlich wesentliche Ursache einer nicht in der Berufs­krankheits-Liste bezeichneten Krankheit sind, denn die Regelung des § 9 Abs. 2 SGB VII beinhalte keinen Auffang­tat­bestand und keine allgemeine Härteklausel (BSG Urteil vom 20.07.2010, B 2 U 19/09 R). Die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit dürfe danach nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der betreffenden Einwirkungs-Krankheits-Kombination in die Liste der Berufs­krank­heiten erfüllt sind, der Verord­nungsgeber sie also als neue Listen-Berufskrankheit in die Berufs­krank­hei­ten­ver­ordnung (BKV) einfügen dürfte, aber noch nicht tätig geworden ist.

Voraussetzungen für Feststellung einer Wie-Berufskrankheit

Nach § 9 Abs. 2 SGB VII müssen für die Feststellung der Wie-Berufskrankheit folgende Voraussetzungen erfüllt sein: (1) Ein Versicherter muss die Feststellung einer bestimmten Krankheit als Wie-BK beanspruchen. (2) Die Voraussetzung einer in der Anlage 1 zur BKV bezeichneten Krankheit dürfen nicht erfüllt sein. (3) Die Voraussetzungen für die Bezeichnung der geltend gemachten Krankheit als Listen-BK durch den Verord­nungsgeber müssen vorliegen. Es muss eine bestimmte Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit besonderen Einwirkungen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt (gewesen) sein und es müssen medizinisch-wissen­schaftliche Erkenntnisse über das Bestehen einer Einwirkung- und Verur­sa­chungs­be­ziehung vorliegen. (4) Diese medizinisch-wissen­schaft­lichen Erkenntnisse müssen neu sein. (5) Abschließend müssen im Einzelfall die abstrakten Voraussetzungen der Wie-BK konkret erfüllt sein.

Voraussetzungen für Feststellung einer Wie-Berufskrankheit nicht erfüllt

Das Gericht hat die Voraussetzung (3) verneint und dazu ausgeführt, dass nach der Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts dabei zuerst die Art der Einwirkung zu ermitteln sei, die im Blick auf die vom Versicherten geltend gemachte Krankheit abstrakt-generell als Ursache in Betracht kommen kann. Danach sei zu klären, ob dieses abstrakt-generell einer bestimmten Art einer vom Versicherten verrichteten Versi­cher­ten­tä­tigkeit zuzurechnen ist. Erst aus dieser Verbindung von krank­heits­be­zogenen Einwirkungen und versicherten Tätigkeiten ergebe sich, so das Bundes­so­zi­al­gericht, die abstrakt-generelle Personengruppe, die sich von der Allge­mein­be­völ­kerung unterscheidet. Als Einwirkung komme praktisch alles in Betracht, was auf Menschen einwirkt. Daher sei es, auch wenn es (noch) keine Listen-Berufskrankheit gibt, möglich, auf rein psychische Einwirkungen abzustellen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass der Verord­nungsgeber eine entsprechende Listen- Berufskrankheit einführen kann. An die bestimmte Personengruppe seien keine besonderen Anforderungen hinsichtlich ihrer Größe oder sonstiger charak­te­ri­sie­render Merkmale zu stellen.

Weitere Voraussetzung sei, dass die Einwirkungen, denen die Personengruppe durch die versicherte Tätigkeit ausgesetzt ist, abstrakt-generell nach dem Stand der Wissenschaft die wesentliche Ursache einer Erkrankung der geltend gemachten Art sein müssen. Denn für die Beurteilung des generellen Ursachen­zu­sam­menhangs gelte auch hier die Theorie der wesentlichen Bedingung. Vor der rechtlichen Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursachenart selbst, müsse auch hier die natur­wis­sen­schaftliche/natur­phi­lo­so­phische Kausa­li­täts­prüfung erfolgen. Bei dieser sei zu klären, ob nach wissen­schaft­lichen Methoden und Überlegungen belegt ist, dass bestimmte Einwirkungen generell bestimmte Krankheiten der vom Versicherten geltend gemachten Art verursachen. Nach dem Urteil des Bundes­so­zi­al­ge­richts vom 20. Oktober 2010 sei das anzunehmen, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachver­ständigen, die auf den jeweils in Betracht kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben wissen­schaftlich fundierten Meinung gelange. Dies werde für das Vorliegen solcher Erkenntnisse für die posttrau­ma­tische Belas­tungs­störung bezweifelt.

Medizinische Erkenntnisse zur Verursachung posttrau­ma­tischer Belas­tungs­störung durch psychisch belastende Tätigkeiten nicht gegeben

Nach den Ermittlungen des Sozialgerichts seien derart neue medizinische Erkenntnisse hinsichtlich der Verursachung der posttrau­ma­tischen Belas­tungs­störung durch psychisch belastende Tätigkeiten bei Rettungs­sa­ni­tätern, Polizisten, Feuerwehrleuten und Entwick­lungs­helfern in Krisengebieten, nicht gegeben. So sei die Anerkennung psychischer Gesund­heits­schäden als Wie-Berufskrankheit derzeit mangels Nachweises der generellen gesetzlichen Anforderungen faktisch nicht möglich sei.

Darüber hinaus habe das Bundes­so­zi­al­gericht in seiner Entscheidung vom 20. Juli 2010 darauf hingewiesen, dass bei der Beobachtung von Einwirkungen auf Dritte, wenn der Versicherte nicht selbst von Einwirkungen betroffen gewesen ist, als Anknüp­fungspunkt für die Bejahung des Ursachen­zu­sam­menhangs ein enger personaler Bezug zu verlangen sei. Ein solcher sei hier nicht ersichtlich und/oder vom Kläger dargelegt worden.

Quelle: Sozialgericht Stuttgart/ra-online (pm/kg)

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