18.10.2024
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Sie sehen einen Teil eines Daches, welches durch einen Sturm stark beschädigt wurde.

Dokument-Nr. 12489

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Oberlandesgericht Schleswig-Holstein Urteil23.06.2011

Selbst­ver­stüm­melung nicht erwiesen – Unfall­ver­si­cherung muss zahlenVersicherer muss Freiwilligkeit der Verletzung des Versicherten nachweisen können

Ist eine freiwillige Selbst­ver­stüm­melung eines Versicherten nicht nachweisbar, ist der Unfall­ver­si­cherer verpflichtet, für den Verlust der Gliedmaßen die vereinbarte Versi­che­rungs­leistung zu zahlen. Dies entschied das Oberlan­des­gericht Schleswig-Holstein.

Die Klägerin des zugrunde liegenden Falls schloss mit der beklagten Versicherung im März 2006 Unfall­ver­si­che­rungs­verträge ab, in denen sie sich selbst sowie ihren Sohn und ihren Lebensgefährten gegen Unfallschäden für die Zeit ab April 2006 versicherte. Anfang April 2006 schnitt sich ihr Lebensgefährte beim Zubereiten von Brennholz in einem ländlich gelegenen Ferienhaus mit einer Tischkreissäge den rechten Daumen ab. Die Versicherung verweigerte die Auszahlung der für Unfallschäden dieser Art vereinbarten Versicherungsleistung in Höhe von 100.000 Euro. Sie begründete ihre Weigerung damit, dass die Umstände für eine freiwillige Selbst­ver­stüm­melung durch den Lebensgefährten der Klägerin sprächen.

Hinweise auf Freiwilligkeit der Verletzung durchaus gegeben

Das Oberlan­des­gericht Schleswig-Holstein entschied jedoch, dass der Klägerin die verlangte Versi­che­rungs­leistung zusteht. Nach den gesetzlichen Vorschriften wird zugunsten des Versicherten vermutet, dass die Verletzung unfreiwillig erlitten wurde. Dies bedeutet, dass der Versicherer, um von der Versi­che­rungs­leistung befreit zu sein, die Freiwilligkeit nachweisen muss. Für die Freiwilligkeit sprach, dass die Klägerin und ihr Lebensgefährte sich zum Zeitpunkt der Verletzung in angespannten finanziellen Verhältnissen befanden, dass sich die Verletzung nur sehr kurze Zeit nach dem Beginn des Versi­che­rungs­schutzes ereignete und dass die Art und Weise des Abschnitts des Daumens ohne Verletzung anderer Teile der Hand für eine absichtliche Selbst­ver­stüm­melung typisch war. Auch machten der Lebensgefährte und ein beim Unfall anwesender Zeuge vage und wider­sprüchliche Aussagen zum Unfallgeschehen. Zudem konnte, nachdem der Verletzte sich zunächst im Krankenhaus hatte behandeln lassen, ohne den abgeschnittenen Daumen mitzunehmen, anschließend das amputierte Fingerglied nicht mehr aufgefunden werden.

Freiwillige Selbst­ver­stüm­melung im zugrunde liegenden Fall unwahr­scheinlich

Das Oberlan­des­gericht sah es jedoch angesichts der konkreten Umstände noch als ernsthaft möglich an, dass der Schaden­s­eintritt ein bloßes Unglück gewesen ist. Dem Gericht erschien es unwahr­scheinlich, dass sich der Lebensgefährte den rechten Daumen freiwillig abgeschnitten haben sollte. Da er zum einen Rechtshänder ist und zum anderen der linke Daumen bereits vorgeschädigt war, hätte im Fall einer freiwilligen Verstümmelung nichts näher gelegen, als den linken Daumen zu nehmen. Der Eintritt eines Unfalls mit dem Verlust eines Fingergliedes ist schon für sich genommen ein extrem unwahr­schein­liches Ereignis, von dem die allermeisten Menschen zeitlebens verschont bleiben. Die zeitliche Nähe des Abschlusses des Versi­che­rungs­ver­trages zum Schaden vermag deshalb die Lage nicht mehr viel unwahr­schein­licher zu machen als sie ohnehin schon ist. Die mangelnde Erinnerung der Zeugen an den Unfall kann auch darauf beruhen, dass sich der Unfall so schnell und überraschend zugetragen hat, dass die Zeugen dessen Einzelheiten überhaupt nicht haben registrieren können. Es ist durchaus nicht abwegig, dass jemand, dem ein Fingerglied abgeschnitten wird, dies im Schock der ersten Momente nicht bemerkt. Bei der ländlichen Lage des Ferienhauses ist es auch nicht so verwunderlich, dass der Daumen nach Rückkehr aus dem Krankenhaus nicht mehr aufzufinden war.

Quelle: Oberlandesgericht Schleswig-Holstein/ra-online

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