18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen den Auspuff eines Autos.

Dokument-Nr. 9935

Drucken
Urteil09.07.2010Oberlandesgericht Oldenburg2 SsRs 220/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • DAR 2010, 476Zeitschrift: Deutsches Autorecht (DAR), Jahrgang: 2010, Seite: 476
  • VRS 119, 152Verkehrsrechts-Sammlung (VRS), Band: 119, Seite: 152
Für Details Fundstelle bitte Anklicken!
ergänzende Informationen

Oberlandesgericht Oldenburg Urteil09.07.2010

Winter­rei­fen­pflicht verfas­sungs­widrig - kein Bußgeld für Sommerreifen im WinterVorschrift in Straßen­ver­kehrs­ordnung ist zu unbestimmt formuliert und damit nichtig

Der Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­bestand in der Straßen­ver­kehrs­ordnung, der zu einer den Wetter­ver­hält­nissen angepassten Bereifung verpflichtet, ist verfas­sungs­widrig. Dies entschied das Oberlan­des­gericht Oldenburg.

Im zugrunde liegenden Fall befuhr ein Autofahrer mit seinem PKW im November 2008 mittags eine innerörtliche Straße in Bohmte. Sein Fahrzeug war mit Sommerreifen ausgestattet. Er überfuhr eine Eisfläche und kam ins Rutschen. Er schlitterte in ein an der Straße befindliches Schaufenster eines Geschäftes.

Amtsgericht verhängt Bußgeld aufgrund nicht angepasster Bereifung des Fahrzeugs

Das Amtsgericht Osnabrück verurteilte ihn zu einer Geldbuße von 85,- € wegen einer Ordnungswidrigkeit. Er sei mit nicht angepasster Geschwindigkeit und einer nicht den Wetter­ver­hältnisse angepassten Bereifung gefahren. Da sich Eis auf der Straße befunden habe, hätte er mit Winterreifen fahren müssen. Der betroffene Autofahrer vertrat die Auffassung, der Unfall hätte sich auch mit Winterreifen ereignen können und legte Beschwerde vor dem Oberlan­des­gericht ein.

Das Oberlan­des­gericht Oldenburg entschied, dass der entsprechende Ordnungs­wid­rig­kei­ten­tat­bestand in der Straßenverkehrsordnung über die Pflicht zu einer den Wetter­ver­hält­nissen angepassten Bereifung in seiner konkreten Ausgestaltung verfassungswidrig ist.

§ 2 Absatz 3a Satz 1 und 2 Straßen­ver­kehrs­ordnung (StVO) regelt:

"Bei Kraftfahrzeugen ist die Ausrüstung an die Wetter­ver­hältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbesondere eine geeignete Winterbereifung und Frosts­schutz­mittel in der Schei­ben­wasch­anlage."

§ 49 Absatz 1 Ziffer 2 StVO bestimmt, dass wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Vorschrift über "die Straßen­be­nutzung durch Fahrzeuge nach § 2" handelt, eine Ordnungs­wid­rigkeit begeht, die mit einem Bußgeld geahndet werden kann.

Voraussetzungen für eine Strafbarkeit bzw. einer Ordnungs­wid­rigkeit müssen konkret umschrieben sein und dürfen nicht durch Auslegung ermittelt werden

Das Oberlan­des­gericht entschied, dass die Vorschrift des § 2 Abs. 3a S. 1 und 2 in Verbindung mit § 49 Abs. 1 Ziff. 2 StVO gegen das verfas­sungsmäßig gebotene Bestimmt­heitsgebot verstoße. Nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz sei der Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit bzw. einer Ordnungs­wid­rigkeit so konkret zu umschreiben, dass der Anwen­dungs­bereich für den Einzelnen erkennbar sei oder sich durch Auslegung ermitteln lasse.

Gesetzgeber hat keine generelle Winter­rei­fen­pflicht für Wintermonate geregelt

Dies sei bei der betroffenen Vorschrift jedoch nicht der Fall. Weder gesetzlichen noch technischen Vorschriften sei zu entnehmen, welche Eigenschaften Reifen für bestimmte Wetter­ver­hältnisse haben müssen. Das gelte auch für Winterreifen. Der Gesetzgeber habe gerade keine generelle Winter­rei­fen­pflicht für die Wintermonate geregelt. Ungeklärt sei insbesondere, ob auch Sommerreifen für winterliche Witte­rungs­ver­hältnisse im Sinne der Vorschrift geeignet sein können. So genannte Sommerreifen würden von vornherein kaum auf Schnee- und Glätte­taug­lichkeit geprüft. Bei einem Winter­rei­fentest im Jahr 2005 seien nur zwei Sommerreifen getestet worden, die sich beim Fahren auf Eis sogar als geeignet erwiesen hätten.

Für Bürger ist "ungeeignete Bereifung bei winterlichen Wetter­ver­hält­nissen" aus gesetzlicher Regelung nicht eindeutig erkennbar

Für den Bürger sei daher nicht eindeutig erkennbar, welche Reifen als "ungeeignete Bereifung bei winterlichen Wetter­ver­hält­nissen" anzusehen seien. Diese Unklarheit hätte der Gesetzgeber durch eine klare Anordnung vermeiden können. Denkbar sei beispielsweise eine klare Anordnung von Winterreifen bei "Wetter­ver­hält­nissen, bei denen Eis und/oder Schnee möglich sind".

Zugrunde liegende Norm ist Rechts­ver­ordnung und bedarf zur Entscheidung über Verfas­sungs­mä­ßigkeit keiner Vorlage beim Bundes­ver­fas­sungs­gericht

Das Oberlan­des­gericht konnte ohne Vorlage an das Bundes­ver­fas­sungs­gericht selber über die Verfas­sungs­mä­ßigkeit der Norm entscheiden, da es sich bei § 2 Abs. 3 a StVO um kein formelles Gesetz handelt, sondern um eine so genannte Rechts­ver­ordnung. Formelle Gesetze werden vom Parlament beraten und verabschiedet, während Rechts­ver­ord­nungen von den durch ein formelles Gesetz ermächtigten Exekutivorganen (z.B. Bundes­mi­nis­terien oder Landes­re­gie­rungen) erlassen werden.

Bußgeld wegen Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit

Der Betroffene Autofahrer musste jedoch wegen Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit ein Bußgeld in Höhe von 50,- € zahlen.

Fahren mit Sommerreifen im Winter ohne Verkehrs­ge­fährdung bleibt sanktionslos

Durch diese Entscheidung wird nicht in Frage gestellt, dass bei winterlichen Temperaturen, insbesondere aber bei Schnee und Eis, M+S Reifen oder Reifen mit Schnee­flo­cken­symbol benutzt werden sollten, um Unfälle möglichst zu vermeiden. Wer sich anders verhält, riskiert nicht nur haftungs- und versi­che­rungs­rechtliche Nachteile, ihm droht darüber hinaus - vor allem wenn andere bei einem Verkehrsunfall verletzt werden - weiter die Verfolgung wegen einer Straftat bzw. Ordnungs­wid­rigkeit. Das Fahren mit Sommerreifen im Winter, das zu keiner konkreten Verkehrs­ge­fährdung führt, bleibt aber sanktionslos.

Quelle: ra-online, Oberlandesgericht Oldenburg

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Urteil9935

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI