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- Sozialgericht Bremen, , S 23 AS 1525/09 ER
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Beschluss03.12.2009
Arbeitslosengeld II: Deckungslücke bei privater Kranken- und Pflegeversicherung verfassungswidrigVerstoß gegen Gebot zum Schutz der Menschenwürde
Die Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAgIS) ist verpflichtet, vorläufig die Kosten für eine private Kranken- und Pflegeversicherung einer Hilfebedürftigen in voller Höhe zu bezuschussen. Die gesetzlich vorgesehene nur anteilige Bezuschussung der entsprechenden Beiträge ist verfassungswidrig. Dies hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschieden.
Die 1948 geborene Antragstellerin bezieht seit Juni 2009 Arbeitslosengeld II. Zuvor war sie als Inhaberin einer kleinen Reinigungsfirma selbstständig tätig und privat kranken- und pflegeversichert. Aufgrund umfangreicher am 01. Januar 2009 in Kraft getretener Neuregelungen (Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz [GKV-WSG] vom 26. März 2007) wurde die Antragstellerin – anders als dies nach früherem Recht der Fall gewesen wäre – mit Beginn des Leistungsbezugs nicht versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung, sondern blieb kraft Gesetzes Mitglied ihrer privaten Kranken- und Pflegeversicherung. Bei Beziehern von Arbeitslosengeld II sieht das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) eine Reduzierung des so genannten Basistarifs in der Kranken- und Pflegeversicherung auf die Hälfte vor. Hieraus ergibt sich für die Zeit seit dem 01. Januar 2009 eine monatliche Beitragsbelastung für privat kranken- und pflegeversicherte Leistungsbezieher in Höhe von 320,64 EUR. Der Beitragszuschuss des Grundsicherungsträgers ist in diesen Fällen allerdings auf die für einen Arbeitslosengeld II-Bezieher in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung zu tragenden Beiträge gesetzlich begrenzt (seit 01. Juli 2009 insgesamt 142,11 EUR monatlich). Dies führt bei Leistungsbeziehern wie der Antragstellerin des entschiedenen Verfahrens zu einer monatlichen Deckungslücke in Höhe von 178,53 EUR; ihr bliebe bei Zahlung der vom Grundsicherungsträger nicht übernommenen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge aus der Regelleistung (hier: 359,00 EUR) lediglich noch ein Betrag von 180,47 EUR pro Monat zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Untergrenze des sozialrechtlich zu sichernden Existenzminimums unterschritten
Dieser Betrag unterschreitet nach Ansicht des Landessozialgerichts die verfassungsrechtliche Untergrenze des sozialrechtlich zu sichernden Existenzminimums eines in der Bundesrepublik Deutschland lebenden alleinstehenden Erwachsenen und stellt das zum Lebensunterhalt Unerlässliche nicht sicher. Das Gericht hat sich daher aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes für berechtigt und verpflichtet gehalten, der Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig einen Zuschuss in Höhe der tatsächlich zu entrichtenden Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung zuzusprechen.
Staates hat verfassungsrechtliche Pflicht Existenzminimum sicherzustellen
Die durch die nur anteilige Bezuschussung entstehende erhebliche Deckungslücke verstößt nach Auffassung des Gerichts gegen die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Existenzminimums, welche aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt. Diese vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. als "sozialstaatlich unvertretbare Regelungslücke" bezeichnete Problematik ist bereits Gegenstand zahlreicher Änderungsvorschläge von Sozialverbänden, des Bundesrates und des Deutschen Städtetages, ohne dass der Gesetzgeber bislang eine Korrektur vorgenommen hat.
Nichtamtliche Leitsätze:
Erläuterungen
Nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 12 Abs. 1 c S. 6 Halbs. 2 VAG ist in den Fällen, in denen Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II unabhängig von der Höhe des zu zahlenden Beitrags vorliegt, der Zuschuss des Grundsicherungsträgers zu den Aufwendungen für eine private Krankenversicherung der Höhe nach auf den für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragenden Beitrag beschränkt.Eine analoge Anwendung anderer Vorschriften, die die Übernahme der Beiträge zur Krankenversicherung in vollem Umfang vorsehen (§ 12 Abs. 1 c S. 5 VAG, § 26 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 1 SGB II), kommt nicht in Betracht, da keine planwidrige Regelungslücke vorliegt.
Aus § 110 Abs. 2 S. 4 Halbs. 2 SGB XI i. V. m. § 12 Abs. 1 c S. 6 VAG ergibt sich, dass auch hinsichtlich der Beiträge zur privaten Pflegeversicherung der Zuschuss des Grundsicherungsträgers auf den Betrag begrenzt ist, der für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der sozialen Pflegeversicherung zu tragen ist.
Die sich aus § 12 Abs. 1 c S. 6 Halbs. 2 VAG sowie § 110 Abs. 2 S. 4 Halbs. 2 SGB XI ergebende Begrenzung des Beitragszuschusses zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung für SGB II-Leistungsbezieher, die unabhängig von der Höhe des zu leistenden Beitrags hilfebedürftig sind, auf insgesamt 142,11 EUR (ab 1. Juli 2009) verstößt gegen die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Existenzminimums. Denn die 178,53 EUR betragende Differenz zwischen den gewährten Beitragszuschüssen einerseits und dem tatsächlich zu entrichtenden Beitrag andererseits kann nicht aus der Regelleistung nach § 20 SGB II bestritten werden.
Der Hilfebedürftige kann nicht darauf verwiesen werden, eine Gefährdung seines Existenzminimums dadurch abzuwenden, dass er Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung zukünftig nur noch in Höhe des Zuschusses des Grundsicherungsträgers zahlt und dadurch monatliche Beitragsschulden bei seinem Krankenversicherungsunternehmen i. H. v. 178,53 EUR anhäuft.
Der Anspruch des Hilfebedürftigen auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gebietet es im vorliegenden Fall, bereits im Eilverfahren zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Hilfebedürftigen eine einstweilige Anordnung über die Gewährung vorläufiger Leistungen gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG zu treffen. Die Fachgerichte sind durch das dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Verwerfungsmonopol nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht daran gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 - 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382, Rn 29).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 23.12.2009
Quelle: ra-online, LSG Niedersachsen-Bremen
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