14.11.2024
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Dokument-Nr. 8977

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Beschluss03.12.2009Landessozialgericht Niedersachsen-BremenL 15 AS 1048/09 B ER
Vorinstanz:
  • Sozialgericht Bremen, , S 23 AS 1525/09 ER
ergänzende Informationen

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Beschluss03.12.2009

Arbeits­lo­sengeld II: Deckungslücke bei privater Kranken- und Pflege­ver­si­cherung verfas­sungs­widrigVerstoß gegen Gebot zum Schutz der Menschenwürde

Die Bremer Arbeits­ge­mein­schaft für Integration und Soziales (BAgIS) ist verpflichtet, vorläufig die Kosten für eine private Kranken- und Pflege­ver­si­cherung einer Hilfe­be­dürftigen in voller Höhe zu bezuschussen. Die gesetzlich vorgesehene nur anteilige Bezuschussung der entsprechenden Beiträge ist verfas­sungs­widrig. Dies hat das Landes­so­zi­al­gericht Niedersachsen-Bremen entschieden.

Die 1948 geborene Antragstellerin bezieht seit Juni 2009 Arbeits­lo­sengeld II. Zuvor war sie als Inhaberin einer kleinen Reinigungsfirma selbstständig tätig und privat kranken- und pflege­ver­sichert. Aufgrund umfangreicher am 01. Januar 2009 in Kraft getretener Neuregelungen (Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Wettbe­wer­bs­s­tär­kungs­gesetz [GKV-WSG] vom 26. März 2007) wurde die Antragstellerin – anders als dies nach früherem Recht der Fall gewesen wäre – mit Beginn des Leistungsbezugs nicht versi­che­rungs­pflichtig in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung und der sozialen Pflegeversicherung, sondern blieb kraft Gesetzes Mitglied ihrer privaten Kranken- und Pflege­ver­si­cherung. Bei Beziehern von Arbeits­lo­sengeld II sieht das Versi­che­rungs­auf­sichts­gesetz (VAG) eine Reduzierung des so genannten Basistarifs in der Kranken- und Pflege­ver­si­cherung auf die Hälfte vor. Hieraus ergibt sich für die Zeit seit dem 01. Januar 2009 eine monatliche Beitrags­be­lastung für privat kranken- und pflege­ver­si­cherte Leistungs­be­zieher in Höhe von 320,64 EUR. Der Beitrags­zu­schuss des Grund­si­che­rungs­trägers ist in diesen Fällen allerdings auf die für einen Arbeits­lo­sengeld II-Bezieher in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung und der sozialen Pflege­ver­si­cherung zu tragenden Beiträge gesetzlich begrenzt (seit 01. Juli 2009 insgesamt 142,11 EUR monatlich). Dies führt bei Leistungs­be­ziehern wie der Antragstellerin des entschiedenen Verfahrens zu einer monatlichen Deckungslücke in Höhe von 178,53 EUR; ihr bliebe bei Zahlung der vom Grund­si­che­rungs­träger nicht übernommenen Kranken- und Pflege­ver­si­che­rungs­beiträge aus der Regelleistung (hier: 359,00 EUR) lediglich noch ein Betrag von 180,47 EUR pro Monat zur Sicherung des Lebens­un­terhalts.

Untergrenze des sozialrechtlich zu sichernden Existenz­mi­nimums unterschritten

Dieser Betrag unterschreitet nach Ansicht des Landes­so­zi­al­ge­richts die verfas­sungs­rechtliche Untergrenze des sozialrechtlich zu sichernden Existenz­mi­nimums eines in der Bundesrepublik Deutschland lebenden alleinstehenden Erwachsenen und stellt das zum Lebensunterhalt Unerlässliche nicht sicher. Das Gericht hat sich daher aufgrund seiner verfas­sungs­recht­lichen Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes für berechtigt und verpflichtet gehalten, der Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig einen Zuschuss in Höhe der tatsächlich zu entrichtenden Beiträge zur privaten Kranken- und Pflege­ver­si­cherung zuzusprechen.

Staates hat verfas­sungs­rechtliche Pflicht Existenzminimum sicherzustellen

Die durch die nur anteilige Bezuschussung entstehende erhebliche Deckungslücke verstößt nach Auffassung des Gerichts gegen die verfas­sungs­rechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Existenz­mi­nimums, welche aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozial­staats­prinzip folgt. Diese vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. als "sozialstaatlich unvertretbare Regelungslücke" bezeichnete Problematik ist bereits Gegenstand zahlreicher Änderungs­vor­schläge von Sozialverbänden, des Bundesrates und des Deutschen Städtetages, ohne dass der Gesetzgeber bislang eine Korrektur vorgenommen hat.

Nichtamtliche Leitsätze:

Erläuterungen
Nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 12 Abs. 1 c S. 6 Halbs. 2 VAG ist in den Fällen, in denen Hilfe­be­dürf­tigkeit nach dem SGB II unabhängig von der Höhe des zu zahlenden Beitrags vorliegt, der Zuschuss des Grund­si­che­rungs­trägers zu den Aufwendungen für eine private Kranken­ver­si­cherung der Höhe nach auf den für einen Bezieher von Arbeits­lo­sengeld II in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung zu tragenden Beitrag beschränkt. 

Eine analoge Anwendung anderer Vorschriften, die die Übernahme der Beiträge zur Kranken­ver­si­cherung in vollem Umfang vorsehen (§ 12 Abs. 1 c S. 5 VAG, § 26 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 1 SGB II), kommt nicht in Betracht, da keine planwidrige Regelungslücke vorliegt. 

Aus § 110 Abs. 2 S. 4 Halbs. 2 SGB XI i. V. m. § 12 Abs. 1 c S. 6 VAG ergibt sich, dass auch hinsichtlich der Beiträge zur privaten Pflege­ver­si­cherung der Zuschuss des Grund­si­che­rungs­trägers auf den Betrag begrenzt ist, der für einen Bezieher von Arbeits­lo­sengeld II in der sozialen Pflege­ver­si­cherung zu tragen ist. 

Die sich aus § 12 Abs. 1 c S. 6 Halbs. 2 VAG sowie § 110 Abs. 2 S. 4 Halbs. 2 SGB XI ergebende Begrenzung des Beitrags­zu­schusses zur privaten Kranken- und Pflege­ver­si­cherung für SGB II-Leistungs­be­zieher, die unabhängig von der Höhe des zu leistenden Beitrags hilfebedürftig sind, auf insgesamt 142,11 EUR (ab 1. Juli 2009) verstößt gegen die verfas­sungs­rechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Existenz­mi­nimums. Denn die 178,53 EUR betragende Differenz zwischen den gewährten Beitrags­zu­schüssen einerseits und dem tatsächlich zu entrichtenden Beitrag andererseits kann nicht aus der Regelleistung nach § 20 SGB II bestritten werden. 

Der Hilfebedürftige kann nicht darauf verwiesen werden, eine Gefährdung seines Existenz­mi­nimums dadurch abzuwenden, dass er Beiträge zur privaten Kranken- und Pflege­ver­si­cherung zukünftig nur noch in Höhe des Zuschusses des Grund­si­che­rungs­trägers zahlt und dadurch monatliche Beitrags­schulden bei seinem Kranken­ver­si­che­rungs­un­ter­nehmen i. H. v. 178,53 EUR anhäuft. 

Der Anspruch des Hilfe­be­dürftigen auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gebietet es im vorliegenden Fall, bereits im Eilverfahren zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Hilfe­be­dürftigen eine einstweilige Anordnung über die Gewährung vorläufiger Leistungen gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG zu treffen. Die Fachgerichte sind durch das dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht vorbehaltene Verwer­fungs­monopol nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht daran gehindert, schon vor der im Haupt­sa­che­ver­fahren einzuholenden Entscheidung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts auf der Grundlage ihrer Rechts­auf­fassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Haupt­sa­cheent­scheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1992 - 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382, Rn 29).

Quelle: ra-online, LSG Niedersachsen-Bremen

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