18.10.2024
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Sie sehen ein altes Ehepaar auf einer Parkbank.
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Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil22.03.2016

Versicherter hat bei fehlender Wegfähigkeit Anspruch auf volle Erwerbs­minderungs­renteFehlende Sehfähigkeit und damit einhergehende erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr stellen deutliche Einschränkung der Wegfähigkeit dar

Das Landes­so­zi­al­gericht Baden-Württemberg hat entschieden, dass einem Versicherter, der aufgrund einer starken Sehstörung weder selbst Auto fahren noch gefahrlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder mittlere Strecken zu Fuß zurücklegen kann, ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung zusteht. Nach Auffassung des Gerichts kann der Mann seine Arbeitsstelle nicht mehr zumutbar erreichen.

Im zugrunde liegenden Verfahren war ein 60-jähriger Heimerzieher seit dem Jahr 2010 wegen Depressionen dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt. Im November 2011 entzündete sich der Sehnervenkopf an beiden Augen, was zu dauerhaften Sehstörungen mit deutlich eingeschränktem Gesichtsfeld führte (fast vollständiger Verlust der unteren Gesichts­feld­hälfte). Es besteht ein Grad der Behinderung von 100.

Deutsche Renten­ver­si­cherung lehnt Antrag auf Gewährung von Erwer­bs­min­de­rungsrente ab

Die Stadt Karlsruhe als Arbeitgeber riet ihm zur Stellung eines Rentenantrags. Die Deutsche Renten­ver­si­cherung lehnte den Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zunächst ab, da der Versicherte, wenn auch unter gewissen Einschränkungen, noch beruflich tätig sein könne. So könne er z.B. noch als Poststel­len­mi­t­a­r­beiter arbeiten. Erst im laufenden Gerichts­ver­fahren hatte sie im Sommer 2014 rückwirkend ab dem Jahr 2013 die Rente bewilligt.

SG verurteilt Renten­ver­si­cherung zur Gewährung von Erwer­bs­min­de­rungsrente ab Januar 2012

Das Sozialgericht Karlsruhe verurteilte die Deutsche Renten­ver­si­cherung darüber hinaus, die Rente bereits ab dem 1. Januar 2012 rückwirkend zu gewähren. Gegen dieses Urteil haben sowohl die Deutsche Renten­ver­si­cherung als auch der Versicherte Berufung eingelegt.

Relevante Einschränkung der Wegfähigkeit

Das Landes­so­zi­al­gericht Baden-Württemberg verwies in seiner Entscheidung darauf, dass zur Erwer­bs­fä­higkeit auch die Fähigkeit gehöre, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (sogenannte Wegfähigkeit). Eine rechtlich relevante Einschränkung der Wegfähigkeit liege vor, wenn der Versicherte nicht mehr in der Lage sei, ohne besondere Gefahr für sich oder andere, täglich viermal Wegstrecken von 500 m mit einem zumutbaren Zeitaufwand von bis zu 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen und zweimal öffentliche Verkehrsmittel während der Haupt­ver­kehrszeit zu benutzen, oder ein eigenes Kfz zu steuern.

Sachver­ständiger bejaht deutlich erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr

Der vom Landes­so­zi­al­gericht eingeschaltete Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass wegen der Augenerkrankung mit dem ausgeprägten Gesichts­feld­ausfall bereits im Laufe des November 2011 eine deutlich erhöhte Gefährdung im Straßenverkehr sowie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingetreten war. Ohne Begleitperson könne der Mann keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und wegen der starken Sehbehinderung eine Wegstrecke von 500 m nicht in der üblicherweise veranschlagten Zeit von 20 Minuten sicher absolvieren. Bei schlechten Beleuch­tungs­si­tua­tionen, wie Nebel oder Dunkelheit könnten nicht einmal Bordsteinkanten oder Treppenstufen sicher erkannt werden.

LSG spricht Erwer­bs­min­de­rungsrente bereits ab Dezember 2011 zu

Hierauf hat das Landes­so­zi­al­gericht dem Versicherten die Rente wegen voller Erwer­bs­min­derung bereits ab dem 1. Dezember 2011 zugesprochen. Zur Erwer­bs­fä­higkeit gehöre auch die Fähigkeit, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, was vorliegend dem Versicherten nicht ohne besondere Gefahr möglich sei.

Sozial­ge­setzbuch (SGB)

Erläuterungen

§ 43 Absatz 2 Satz 2 SGB VI (Gesetzliche Renten­ver­si­cherung):

Voll erwer­bs­ge­mindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

§ 99 Absatz 1 Satz 1 SGB VI:

Eine Rente aus eigener Versicherung wird von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchs­vor­aus­set­zungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchs­vor­aus­set­zungen erfüllt sind.

Quelle: Landessozialgericht Baden-Württemberg/ra-online

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