23.11.2024
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Sie sehen die Außenfassade einer Niederlassung des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Bundesadler und passendem Schriftzug der Behörde.
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Hessischer Verwaltungsgerichtshof Urteil04.11.2016

Anspruch auf Asylverfahren trotz Flüchtlings­anerkennung in BulgarienBundesamt für Migration und Flüchtlinge muss trotz erfolgter Flüchtlins­anerkennung in Bulgarien Asylverfahren in Deutschland durchführen

Der Hessische Verwaltungs­gerichts­hof hat entschieden, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet ist, auf Antrag eines Flüchtlings ein Asylverfahren auch dann durchzuführen, wenn eine Flüchtlings­anerkennung im Bulgarien bereits erfolgt ist.

Im zugrunde liegenden Verfahren hatte ein heute 20-jähriger Flüchtling aus Syrien geklagt, der im Juli 2014 aus seinem Heimatland geflohen und über die Türkei, Bulgarien und Serbien im Dezember 2014 in das Bundesgebiet eingereist war. Auf seinen während eines einmonatigen Aufenthalts in der Republik Bulgarien gestellten Asylantrag war ihm von den bulgarischen Behörden im November 2014 die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuerkannt worden.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnt Asylantrag ab

Daraufhin wurde der Asylantrag des Klägers vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom Mai 2015 als nicht zulässig abgelehnt. Zur Begründung der Ablehnung wurde ausgeführt, dass dem Kläger keine - zusätzliche - Zuerkennung der Flücht­lings­ei­gen­schaft durch die Bundesrepublik Deutschland zustehe. Des Weiteren stellte das Bundesamt fest, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfe; auf die Androhung einer Abschiebung nach Bulgarien wurde im Laufe des gerichtlichen Verfahrens verzichtet.

Hessischer VGH bejaht Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens

Die auf eine Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Bundesgebiet gerichtete Klage des Klägers wurde vom Verwal­tungs­gericht Gießen mit Urteil vom 9. Februar 2016 abgewiesen. Die vom Hessischen Verwal­tungs­ge­richtshof zugelassene Berufung gegen dieses erstin­sta­nzliche Urteil hatte Erfolg. Nach Auffassung des Hessischen Verwal­tungs­ge­richtshofs besteht ein Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens dann, wenn ein Flüchtling in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Union, der ihn als Flüchtling bereits anerkannt hat, nicht zurückkehren kann, weil dort die Lebens­be­din­gungen für Flüchtlinge den Mindest­standards der Europäischen Grund­recht­echarta nicht genügen. Andernfalls würde er dauerhaft als lediglich geduldeter Ausländer auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet ohne Integrations- und Zukunfts­per­spektive verwiesen werden, was mit den Grundsätzen internationalen Flücht­lings­schutzes nicht zu vereinbaren sei.

Asylverfahren in Bulgarien leidet voraussichtlich unter systemischen Mängeln

Die bereits erfolgte Zuerkennung der Flücht­lings­ei­gen­schaft in Bulgarien stehe einer - weiteren - Durchführung eines Asylverfahrens und einer möglichen "erneuten" Anerkennung als Flüchtling durch die Bundesrepublik Deutschland nicht entgegen, weil nach Überzeugung des Hessischen Verwal­tungs­ge­richtshofs das Asylverfahren in Bulgarien derzeit insbesondere hinsichtlich bereits anerkannter Flüchtlinge unter sogenannten systemischen Mängeln leide und betroffene Flüchtlinge daher nicht auf eine bereits in Bulgarien erfolgte Flüchtlingsanerkennung verwiesen werden könnten. So seien anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien derzeit von Obdachlosigkeit bedroht, weil nur Asylsuchende, die sich noch in einem Asylverfahren befinden, nicht aber bereits anerkannte Flüchtlinge ein Recht auf Unterbringung in einer der Notunterkünfte hätten. Anerkannte Flüchtlinge könnten auch in kommunalen Obdach­lo­sen­un­ter­künften oder Sozialwohnungen keine Unterkunft finden. Dafür müsste mindestens ein Famili­en­mitglied die bulgarische Staats­bür­ger­schaft besitzen und schon seit einer gewissen Zeit ununterbrochen in der jeweiligen Gemeinde gemeldet gewesen sein. Erschwerend komme hinzu, dass ohne Wohnung auch der Zugang zu anderen staatlichen oder medizinischen Leistungen unmöglich sei. Den monatlichen Beitrag für eine Gesund­heits­ver­sorgung müssten anerkannte Flüchtlinge selbst bezahlen; eine staatliche Unterstützung hierzu gebe es nicht. Auch gebe es in Bulgarien kein nationales Integra­ti­o­ns­programm für anerkannte Flüchtlinge oder sog. subsidiär Schutz­be­rechtigte. Ihnen sei es praktisch unmöglich, ihre sozialen Rechte wahrzunehmen. Eine Integration in den Arbeitsmarkt für anerkannte Flüchtlinge oder einen Schulunterricht für deren Kinder gebe es in Bulgarien nicht. Es bestehe dort kein Integra­ti­o­ns­programm für anerkannte Flüchtlinge und auch Sprach­un­terricht werde nicht angeboten. Diese Einschätzung von Flücht­ling­s­or­ga­ni­sa­tionen werde durch die Auskünfte des Auswärtigen Amtes und des UNHCR bestätigt. Auch habe die Republik Bulgarien mehrere Richtlinien der Europäischen Union zum Flücht­lings­schutz und zum Anerken­nungs­ver­fahren bisher nicht in nationales Recht umgesetzt.

Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aus Gründen effektiver Gewährung von Flücht­lings­schutz geboten

Der Hessische Verwal­tungs­ge­richtshof gelangt deshalb aufgrund der vorliegenden Auskünfte zu dem Ergebnis, dass es aus Gründen effektiver Gewährung von Flücht­lings­schutz geboten sei, dem Kläger die Durchführung eines - erneuten - Asylverfahrens im Bundesgebiet zu ermöglichen, da er nur so einen Zugang zu den ihm zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechten erhalten könne.

Quelle: Hessischer Verwaltungsgerichtshof/ra-online

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