Beschwerdeführerin des zugrunde liegenden Streitfalls ist die Axel Springer AG (“Springer”). Die von Springer herausgegebene Bild-Zeitung veröffentlichte im September 2004 auf ihrer Titelseite einen Artikel über die Festnahme eines bekannten Fernsehschauspielers, in einem Zelt auf dem Münchner Oktoberfest, wegen Kokainbesitzes. Der Artikel war mit drei Fotos des Schauspielers illustriert und wurde im Innenteil fortgesetzt. Darin wurde erwähnt, dass der Schauspieler der seit 1998 die Rolle eines Kommissars in einer beliebten TV-Serie spielte, bereits im Juli 2000 wegen Drogenbesitzes zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden war. In einem zweiten Artikel im Juli 2005 berichtete die Bild-Zeitung, dass der Darsteller nach einem Geständnis wegen illegalen Drogenbesitzes zu einer Geldstrafe verurteilt wurden war.
Nach Erscheinen des ersten Artikels beantragte der Schauspieler beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen Springer. Das Gericht gab dem Antrag statt und untersagte dem Verlag jede weitere Veröffentlichung des Artikels und der Fotos. Das Oberlandesgericht Hamburg bestätigte die einstweilige Verfügung im Juni 2005 betreffend den Artikel. Im Hinblick auf die Fotos war Springer nicht in Berufung gegangen.
In einem Urteil vom November 2005 untersagte das Landgericht Hamburg jede weitere Veröffentlichung des nahezu vollständigen Inhalts des ersten Artikels unter Androhung eines Ordnungsgeldes und verurteilte Springer zur Zahlung einer Vertragsstrafe für die Veröffentlichung des Artikels. Das Gericht befand insbesondere, dass das Recht des Schauspielers auf Achtung seines Privatlebens das öffentliche Interesse an der Information überwiege, obwohl die Wahrheit des Berichts der Bild-Zeitung nicht in Frage stehe. Es sei in dem Fall nicht um eine schwere Straftat gegangen und es gebe kein besonderes Interesse der Öffentlichkeit, über das Vergehen des Mannes Bescheid zu wissen. Das Urteil wurde vom Oberlandesgericht Hamburg sowie, im Dezember 2006, vom Bundesgerichtshof bestätigt.
In einem weiteren Verfahren bezüglich des zweiten Artikels über die Verurteilung des Schauspielers gab das Landgericht Hamburg der Klage des Schauspielers mit der im Wesentlichen gleichen Begründung statt wie in seinem Urteil bezüglich des ersten Artikels. Das Urteil wurde vom Oberlandesgericht Hamburg sowie, im Juni 2007, vom Bundesgerichtshof bestätigt. Im März 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, eine Verfassungsbeschwerde Springers gegen diese Urteile zur Entscheidung anzunehmen.
Unter Berufung auf das Recht zur freien Meinungsäußerung (Artikel 10 EMRK) rügte die Axel Springer AG die gerichtliche Verfügung gegen die weitere Veröffentlichung der beiden Artikel.
Die Beschwerde im Verfahren Axel Springer AG wurde am 18. August 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.
Zwischen den Parteien war unstreitig, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte einen Eingriff in Springers Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 darstellten. Weiterhin war unstreitig, dass dieser Eingriff nach deutschem Recht gesetzlich vorgesehen war und ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufs anderer, verfolgte.
Im Hinblick auf die Frage, ob der Eingriff notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war, stellte der Gerichtshof fest, dass die strittigen Artikel über die Festnahme und Verurteilung des Schauspielers öffentlich zugängliche Informationen aus der Justiz betrafen, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse hatte. Grundsätzlich ist es Sache der nationalen Gerichte, zu beurteilen, wie bekannt eine Person in der Öffentlichkeit ist, besonders wenn es sich, wie im Fall des betroffenen Schauspielers, um eine vor allem in einem Land bekannte Persönlichkeit handelt. Das Hamburger Oberlandesgericht war der Auffassung, dass der Schauspieler, der über einen längeren Zeitraum die Rolle eines Kommissars gespielt hatte, bekannt und sehr beliebt sei. Der Gerichtshof schlussfolgerte, dass der Schauspieler bekannt genug war, um als Person des öffentlichen Lebens zu gelten, was den Anspruch der Öffentlichkeit, über seine Festnahme und das Verfahren gegen ihn informiert zu werden, bekräftigte. Zwar stimmte der Gerichtshof der Einschätzung der deutschen Gerichte im Wesentlichen zu, dass das Interesse Springers an der Veröffentlichung der Artikel lediglich auf eben die Tatsache zurückzuführen war, dass es sich um das Vergehen eines bekannten Schauspielers handelte, über das die Bild-Zeitung kaum berichtet hätte, wenn es von einer der Öffentlichkeit unbekannten Person begangen worden wäre. Der Gerichtshof hob aber hervor, dass der Schauspieler öffentlich auf dem Münchner Oktoberfest festgenommen worden war. Da er zuvor in Interviews Einzelheiten aus seinem Privatleben preisgegeben hatte, konnte er zudem nur in beschränktem Maße darauf vertrauen, dass seine Privatsphäre wirksam geschützt würde.
Nach den Aussagen einer beteiligten Journalistin, deren Wahrheitsgehalt die deutsche Bundesregierung nicht in Frage stellte, hatte die Bild-Zeitung die in dem Artikel vom September 2004 veröffentlichten Informationen über die Festnahme des Schauspielers von der Polizei und der Staatsanwaltschaft München erhalten. Die veröffentlichten Angaben hatten also eine ausreichende sachliche Grundlage und der Wahrheitsgehalt beider Artikel war zwischen den Parteien nicht strittig.
Nichts wies darauf hin, dass Springer keine Abwägung zwischen seinem Interesse, diese Informationen zu veröffentlichen, und dem Recht des Schauspielers auf Achtung seines Privatlebens vorgenommen hätte. Da die Staatsanwaltschaft Springer gegenüber die fraglichen Angaben bestätigt hatte, gab es für den Verlag keine hinreichenden Gründe anzunehmen, er hätte die Anonymität des Schauspielers zu wahren. Es konnte folglich nicht behauptet werden, Springer habe in böser Absicht gehandelt. In diesem Zusammenhang unterstrich der Gerichtshof, dass die Staatsanwaltschaft alle von Springer in dem ersten Artikel preisgegebenen Informationen gegenüber anderen Zeitschriften und Fernsehsendern bestätigt hatte.
Der Gerichtshof wies außerdem darauf hin, dass die Artikel keine Einzelheiten aus dem Privatleben des Schauspielers preisgegeben hatten, sondern im Wesentlichen über die Umstände seiner Festnahme und den Ausgang des Verfahrens gegen ihn berichteten. In den Artikeln wurden keine herabwürdigenden Ausdrücke verwendet oder unbegründete Behauptungen aufgestellt, und die Bundesregierung hatte nicht dargelegt, dass die Veröffentlichung der Artikel schwerwiegende Folgen für den Schauspieler gehabt hätte. Die Sanktionen gegen Springer waren zwar mild, aber trotzdem dazu geeignet, eine Pressemitteilung abschreckende Wirkung dem Verlag gegenüber zu entfalten. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass die dem Verlag auferlegten Beschränkungen in keinem angemessenen Verhältnis zu dem legitimen Ziel standen, das Privatleben des Schauspielers zu schützen. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 10 vor.
Der Gerichtshof entschied, dass Deutschland der Axel Springer AG 17.734,28 Euro für den erlittenen materiellen Schaden und 32.522,80 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 08.02.2012
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online