01.11.2024
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil20.12.2011

EGMR: Kirchen dürfen Beschäf­ti­gungs­ver­hältnisse ohne staatliche Eingriffe regelnRecht auf ein faires Verfahren gemäß Menschen­rechts­kon­vention nicht verletzt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung in mehreren Verfahren entschieden, dass der Kirche das Recht zusteht, Beschäf­ti­gungs­ver­hältnisse ohne staatliche Eingriffe zu regeln.

Die Beschwer­de­führer sind Andreas Baudler, 1950 geboren, amerikanischer Staats­an­ge­höriger und wohnhaft in Ravensburg, sowie Roland Reuter, 1955 geboren, deutscher Staats­an­ge­höriger und wohnhaft in Moers.

Pfarrer nach Unstimmigkeiten mit ihren Gemeinde in den Wartestand versetzt

Herr Andreas Baudler war seit 1982 Pfarrer in einer evangelischen Gemeinde in Böblingen und Roland Reuter seit 1986 Pfarrer in einer evangelischen Gemeinde in Utfort. Beide wurden 1994 nach Unstimmigkeiten mit ihren Gemeinden von der jeweiligen Kirche in den Wartestand versetzt, verbunden mit reduzierten Gehaltsbezügen. Andreas Baudler wurde im Juni 1999 in den Schuldienst versetzt und ist seitdem als Pfarrer für Religi­o­ns­un­terricht tätig. Roland Reuter wurde 1998 in den Ruhestand versetzt.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht nimmt Beschwerden der Pfarrer nicht zur Entscheidung an

Andreas Baudler und Roland Reuter betrieben jeweils erfolglos ein Verfahren vor den inner­kirch­lichen Instanzen gegen diese Entscheidungen und die damit einhergehenden Gehalts­kür­zungen sowie Einschränkungen bei der Sozia­l­ver­si­cherung. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht nahm ihre jeweiligen Verfas­sungs­be­schwerden 1999 mit der Begründung nicht zur Entscheidung an, die Beschwer­de­führer hätten den Rechtsweg zu den Verwal­tungs­ge­richten nicht erschöpft (Az. 2 BvR 2307/94 bzw. 2 BvR 1635/96).

Kirchliches Dienstrecht fällt in Bereich der inner­kirch­lichen Angelegenheiten

Die Beschwer­de­führer erhoben daraufhin Klage bei den Verwal­tungs­ge­richten, die diese für unzulässig erklärten, weil das kirchliche Dienstrecht in den Bereich der inner­kirch­lichen Angelegenheiten falle. Das kirchliche Selbst­be­stim­mungsrecht nach Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichs­ver­fassung von 1919, der Bestandteil des Grundgesetzes ist, umfasse nicht nur das Recht der Kirchen, Stellen frei von staatlichem Einfluss zu besetzen, sondern auch das Recht, die für diese Stellen erforderlichen Eigenschaften sowie die mit ihnen verbundenen Rechte und Pflichten festzulegen. Die Kirchen hätten außerdem keinen Gebrauch von der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der angefochtenen Maßnahmen nach dem Beamten­rechts­rah­men­gesetz gemacht. Folglich sei der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht gegeben.

BVerfG hält Maßnahmen im Fall Baudler weder für willkürlich noch für unwirksam

Am 27. Januar 2004 nahm der Zweite Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts eine zweite Verfassungsbeschwerde Andreas Baudlers nicht zur Entscheidung an (Az. 2 BvR 496/01). Andreas Baudler hatte sich auf die Rechtsprechung des Bundes­ge­richtshofs berufen, wonach staatliche Gerichte eine beschränkte Überprüfung kirchlicher Maßnahmen vornehmen und diese auf ihre Wirksamkeit (nicht aber auf ihre Rechtmäßigkeit) hin überprüfen könnten, d.h. befugt seien, zu prüfen, ob die strittige Maßnahme mit den Grundsätzen der Rechtsordnung, wie dem Willkürverbot, den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung, vereinbar sei. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht war der Auffassung, dass im Fall Andreas Baudlers nichts den Schluss zulasse, dass die Maßnahme im Sinne der vom Bundes­ge­richtshof entwickelten Maßstäbe willkürlich oder unwirksam gewesen sei.

BVerfG nimmt auch zweite Beschwerde Roland Reuters nicht zur Entscheidung an

Im Mai 2004 nahm das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine zweite Verfas­sungs­be­schwerde Roland Reuters nicht zur Entscheidung an (Az. 2 BvR 1327/03). Die Beschwer­de­führer, Hanna und Peter Müller, 1951 bzw. 1952 geboren, sind ein schweizerisch-deutsches Ehepaar und leben in Aarau (Schweiz). 1975 traten sie in den Offiziersdienst der Heilsarmee ein und unterzeichneten eine Verpflich­tungs­er­klärung, in der sie sich ausdrücklich damit einverstanden erklärten, nicht bei der Heilsarmee „angestellt“ zu sein und keinen Arbeitsvertrag mit ihr abzuschließen.

Offiziersdient wegen beanstandeter Arbeit für beendet erklärt

Während ihrer Tätigkeit im missionarischen Dienst beanstandete der Vorgesetzte ihre Arbeit; insbesondere hielt er ihnen Mängel in der Buchführung und den Zustand der Räumlichkeiten vor. Die Heilsarmee versetzte die Beschwer­de­führer zunächst in die Schweiz und stellte sie im Januar 2001 „indisponibel“; anschließend wurde ihr Offiziersdient für beendet erklärt, da sie dafür nicht mehr tauglich seien.

BGH: Entlassung der Beschwer­de­führer zulässig

Ohne die Unter­su­chungs­kom­mission der Heilsarmee angerufen zu haben, fochten die Beschwer­de­führer die Beendigung ihres Offiziers­dienstes vor den deutschen Zivilgerichten an und forderten Gehalts­nach­zah­lungen für den Zeitraum von März bis November 2001. Das Oberlan­des­gericht Köln und der Bundes­ge­richtshof erklärten die Beschwerde zwar für zulässig, wiesen sie aber als unbegründet ab. Sie beriefen sich dabei auf ein Urteil des Bundes­ge­richtshofs von 2000 (Az. V ZR 271/99), wonach die Frage, ob eine kirchliche Maßnahme der Prüfung staatlicher Gerichte unterliege, zwar nicht im Rahmen der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit zu entscheiden, der Prüfungsumfang der staatlichen Gerichte aber begrenzt sei. Wenn die Abwägung zwischen dem Selbst­ver­wal­tungsrecht der Kirchen und dem Recht des Betroffenen zu dem Schluss führe, dass eine kirchliche Maßnahme ausschließlich in den Geltungsbereich des Selbst­ver­wal­tungs­rechts der Kirchen falle, könnten die staatlichen Gerichte diese Maßnahme nicht auf ihre Rechtmäßigkeit, sondern lediglich auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen, d.h. untersuchen, ob die strittige Maßnahme mit den Grundsätzen der Rechtsordnung, wie dem Willkürverbot, den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung, vereinbar sei. Nach Auffassung des Bundes­ge­richtshofs lasse nichts den Schluss zu, dass die Entlassung der Beschwer­de­führer gegen diese Grundsätze verstoßen habe.

Beschwer­de­führer rügen Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 6 § 1 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), rügten die Beschwer­de­führer die Verletzung ihres Rechts auf Zugang zu einem Gericht, um die kirchlichen Entscheidungen überprüfen zu lassen.

Beschwerde beim EGMR eingelegt

Die Beschwerde Andreas Baudlers wurde am 22. Oktober 2004, diejenige Roland Reuters am 8. November 2004 und die Beschwerde des Ehepaars Müller am 2. April 2004 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Recht auf ein faires Verfahren im Fall Bauder und Reuter nicht verletzt

Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass den umstrittenen Entscheidungen über die kirchlichen Beschäf­ti­gungs­ver­hältnisse in den Verfahren Baudler und Reuter die jeweiligen Bestimmungen der Kirchen zur Regelung der Dienst­ver­hältnisse ihrer Geistlichen zugrunde lagen. Die Beschäf­ti­gungs­ver­hältnisse waren also nicht durch staatliches, sondern ausschließlich durch kirchliches Recht geregelt. Die Verwal­tungs­ge­richte hatten, ihrer ständigen Rechtsprechung folgend, entschieden, dass die angefochtenen Maßnahmen eindeutig eine innerkirchliche Angelegenheit seien und nicht von staatlichen Gerichten geprüft werden könnten. Der Bundes­ge­richtshof hatte 2000 zwar eine neue Rechtsprechung zu dieser Frage begründet. Nach Auffassung des Gerichtshofs hatten die Beschwer­de­führer allerdings nicht dargelegt, inwieweit diese Rechtsprechung auf ihre Situation anwendbar war.

Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass die von den Beschwer­de­führern angestrengten Verfahren kein nach deutschem Recht anerkanntes Recht betrafen, so dass Artikel 6 EMRK zum Tragen käme.

Berufen auf Recht auf ein faires Verfahren im Fall des Ehepaars Müller gerechtfertigt

Im Hinblick auf den Fall Müller stellte der Gerichtshof fest, dass das Oberlan­des­gericht Köln und der Bundes­ge­richtshof der Auffassung waren, dass ihre Befugnis zur Überprüfung der Entscheidung der Heilsarmee, die Beschwer­de­führer zu entlassen, darauf beschränkt sei, zu untersuchen, ob die Entscheidung mit den Grundsätzen der Rechtsordnung, wie dem Willkürverbot, den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung, vereinbar sei. Im Unterschied zu den Fällen Baudler und Reuter konnten sich die Beschwer­de­führer also auf ein nach deutschem Recht anerkanntes Recht berufen, Artikel 6 war folglich anwendbar.

Beschwer­de­führern wurde Recht zur Erzielung einer gerichtlichen Entscheidung in ihrer Sache nicht vorenthalten

Die Beschwer­de­führer hatten vor den Zivilgerichten Klage erheben können, sie bemängelten aber den beschränkten Prüfungsumfang der Gerichte. Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass diese Beschränkung auf das kirchliche Selbst­be­stim­mungsrecht nach Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichs­ver­fassung zurückzuführen ist. Weiterhin stellte er fest, dass die deutschen Gerichte berücksichtigt hatten, dass die Beschwer­de­führer die Unter­su­chungs­kom­mission der Heilsarmee nicht angerufen hatten, um ihre Entlassung anzufechten, und dass nach Auffassung der deutschen Gerichte nichts darauf hingewiesen habe, dass die Entscheidung der Heilsarmee willkürlich gewesen wäre oder den guten Sitten oder der öffentlichen Ordnung widersprochen hätte. Der Gerichtshof war folglich der Auffassung, dass die Beschwer­de­führer nicht behaupten konnten, ihnen sei das Recht vorenthalten worden, im Hinblick auf ihre Beschwerde eine gerichtliche Entscheidung in der Sache zu erzielen.

Beschwerden mehrheitlich für unzulässig erklärt

Angesichts dieser Überlegungen erklärte der Gerichtshof mit einer Mehrheit der Stimmen alle drei Beschwerden für unzulässig.

Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online

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