21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil16.04.2013

Sprachregelung für Arbeitsverträge mit grenz­über­schrei­tendem Charakter verstößt gegen Freizügigkeit von ArbeitnehmernSprachliche Verpflichtungen führen nicht zur Erleichterung der Berufsausübung im Unionsgebiet

Das Dekret der Flämischen Gemeinschaft, wonach alle Arbeitsverträge mit grenz­über­schrei­tendem Charakter auf Niederländisch abzufassen sind, verstößt gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Im besonderen Kontext eines Vertrags mit grenz­über­schrei­tendem Charakter steht eine solche sprachliche Verpflichtung in keinem angemessenen Verhältnis zu den von Belgien angeführten Zielen (Schutz einer Landessprache, Schutz der Arbeitnehmer und wirksame Kontrolle durch die nationalen Behörden). Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

In Belgien verpflichtet ein Dekret der Flämischen Gemeinschaft unter anderem beim Abfassen von Arbeits­ver­trägen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit Betriebssitz im nieder­län­dischen Sprachgebiet zum Gebrauch des Nieder­län­dischen. Die Nichtbeachtung dieser sprachlichen Verpflichtung führt zur Nichtigkeit des Arbeitsvertrags, ohne jedoch einen Nachteil für den Arbeitnehmer oder für Rechte Dritter herbeizuführen.

Sachverhalt

Herr Anton Las, ein nieder­län­discher Staatsbürger mit Wohnsitz in den Niederlanden, wurde 2004 von der PSA Antwerp mit Sitz in Antwerpen (Belgien), die zu einem multinationalen Konzern mit Sitz in Singapur gehört, als „Chief Financial Officer“ eingestellt. Der in englischer Sprache abgefasste Arbeitsvertrag sah vor, dass Herr Las seine Arbeitsleistung in Belgien erbringt.

Arbeitnehmer hält Arbeitsvertrag wegen Verletzung der Vorschriften über den Sprachgebrauch für nichtig

Mit Schreiben in englischer Sprache kündigte PSA Antwerp Herrn Las im Jahr 2009 und zahlte ihm eine nach dem Arbeitsvertrag berechnete Kündi­gungs­ab­findung. Herr Las erhob vor der Arbeids­rechtbank (Arbeitsgericht, Belgien) Klage und trug vor, dass der Arbeitsvertrag wegen Verletzung der Vorschriften des Dekrets der Flämischen Gemeinschaft über den Sprachgebrauch nichtig sei. Er forderte unter anderem eine höhere Kündi­gungs­ab­findung nach belgischem Arbeitsrecht.

Nationales Gericht erbittet Entscheidung des EuGH über möglichen Verstoß gegen Freizügigkeit der Arbeitnehmer

Das belgische Gericht möchte vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob das Dekret der Flämischen Gemeinschaft über den Sprachgebrauch gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union verstößt, soweit es ein im nieder­län­dischen Sprachgebiet ansässiges Unternehmen bei der Einstellung eines Arbeitnehmers in ein Arbeitsverhältnis mit grenz­über­schrei­tendem Charakter unter Androhung der vom Gericht von Amts wegen festzu­stel­lenden Nichtigkeit verpflichtet, alle das Arbeits­ver­hältnis betreffenden Dokumente in nieder­län­discher Sprache abzufassen.

Bestimmungen über Freizügigkeit sollen Unionsbürgern Ausübung beruflicher Tätigkeiten im EU-Gebiet grundsätzlich erleichtern

In seinem Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass der betreffende Vertrag unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt, da er zwischen einem in den Niederlanden wohnenden nieder­län­dischen Staats­an­ge­hörigen und einer in Belgien nieder­ge­lassenen Gesellschaft geschlossen wurde. Außerdem kann sich nicht nur ein Arbeitnehmer, sondern auch ein Arbeitgeber auf den Grundsatz der Freizügigkeit berufen. Der Gerichtshof führt aus, dass sämtliche Bestimmungen über die Freizügigkeit den Unionsbürgern die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen.

Nationale Regelung ist geeignet, abschreckende Wirkung auf nicht nieder­län­disch­sprachige Arbeitnehmer und Arbeitgeber auszuüben

Der Gerichtshof stellt fest, dass beim Abfassen von grenz­über­schrei­tenden Arbeits­ver­trägen, die von Arbeitgebern mit Betriebssitz im nieder­län­dischen Sprachgebiet Belgiens geschlossen werden, allein die niederländische Fassung verbindlich ist. Somit stellt eine solche Regelung, die geeignet ist, abschreckende Wirkung auf nicht nieder­län­disch­sprachige Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu haben, eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar. Eine solche Beschränkung ist nur gerechtfertigt, wenn mit ihr ein im Allge­mein­in­teresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet ist, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie streng verhältnismäßig ist.

Unionrecht unterbindet nicht Förderung von Amtssprachen

Zu den von der belgischen Regierung angeführten Begründungen führt der Gerichtshof aus, dass es das Unionsrecht einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, eine Politik zum Schutz und zur Förderung seiner Amtssprache(n) zu betreiben. Die Union wahrt nämlich den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Sie achtet auch die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, zu der auch der Schutz von deren Amtssprache(n) gehört.

Ziel des sozialen Schutzes von Arbeitnehmern kann Beschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen

Der Gerichtshof prüft auch die von Belgien vorgetragenen Ziele in Bezug auf den sozialen Schutz der Arbeitnehmer, der darin bestehe, von sozia­l­ver­si­che­rungs­re­le­vanten Dokumenten in ihrer Muttersprache Kenntnis nehmen zu können und einen wirksamen Schutz der Arbeit­neh­mer­ver­tre­tungen und der nationalen Behörden zu genießen, sowie hinsichtlich der Wirksamkeit der Kontrollen und der Überwachung durch die Gewerbeaufsicht. Der Gerichtshof räumt ein, dass diese Ziele zu den zwingenden Gründen des Allge­mein­in­teresses zählen, die die Beschränkung einer vom Vertrag anerkannten Freiheit rechtfertigen können.

Beanstandetes Dekret dienst nicht der Vereinfachung der Freizügigkeit und ist daher nicht angemessen

Aus dem beanstandeten Dekret geht jedoch hervor, dass der Verstoß gegen die Verpflichtung, einen Arbeitsvertrag zwischen einem Arbeitnehmer und einem im niederländisch en Sprachgebiet nieder­ge­lassenen Arbeitgeber in nieder­län­discher Sprache abzufassen, zur vom Gericht von Amts wegen festzu­stel­lenden Nichtigkeit dieses Vertrags führt, soweit die Feststellung der Nichtigkeit keinen Nachteil für den Arbeitnehmer herbeiführt und die Rechte Dritter unberührt lässt. Die Parteien eines Arbeitsvertrags mit grenz­über­schrei­tendem Charakter beherrschen jedoch nicht zwangsläufig Niederländisch. In einem solchen Fall ist es für eine freie Einigung zwischen den Parteien in Kenntnis der Sachlage erforderlich, dass sie ihren Vertrag in einer anderen Sprache als der Amtssprache des Mitgliedstaats schließen dürfen. Außerdem würde eine Regelung, die auch eine verbindliche Fassung solcher Verträge in einer anderen allen Vertrags­parteien geläufigen Sprache zuließe, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer weniger beeinträchtigen als die im Ausgangs­ver­fahren fragliche Regelung und wäre dennoch geeignet, die Erreichung der mit einer solchen Regelung verfolgten Ziele zu gewährleisten. Folglich geht das beanstandete Dekret über das hinaus, was zur Erreichung der genannten Ziele unbedingt erforderlich ist, und kann daher nicht als angemessen angesehen werden.

Dekret ist nicht mit Unionsrecht vereinbar

Unter diesen Umständen hält der Gerichtshof das beanstandete Dekret, wonach jeder Arbeitgeber mit Betriebssitz in Flandern verpflichtet ist, alle Arbeitsverträge mit grenz­über­schrei­tendem Charakter unter Androhung der Nichtigkeit ausschließlich in nieder­län­discher Sprache abzufassen, für mit dem Unionsrecht unvereinbar.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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