23.11.2024
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Dokument-Nr. 21317

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil16.07.2015

Roma werden durch Anbringung von Stromzählern in unzugänglicher Höhe diskriminiertMaßnahmen selbst bei erwiesener Manipulation und Beschädigung der Stromzähler unver­hält­nismäßig

Die Anbringung von Stromzählern in einer unzugänglichen Höhe in einem Stadtteil, in dem vor allem Roma wohnen, ist geeignet, eine Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft darzustellen, wenn die gleichen Zähler in anderen Stadtteilen in normaler Höhe angebracht sind. Selbst wenn erwiesen wäre, dass in diesem Stadtteil Zähler manipuliert oder beschädigt wurden, erscheint eine solche Praxis im Hinblick auf die beiden Ziele, die Sicherheit des Elektri­zi­täts­netzes und die ordnungsgemäße Erfassung des Stromverbrauchs zu gewährleisten, als unver­hält­nismäßig. Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.

Gemäß einer Richtlinie der Union über die Gleich­be­handlung* ist jegliche Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft verboten. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienst­leis­tungen.

Strom­ver­sor­gungs­un­ter­nehmen bringt Stromzähler der Kunden in sechs bis sieben Metern Höhe an

Frau Nikolova betreibt in der Stadt Dupnitsa (Bulgarien) ein Lebens­mit­tel­ge­schäft in dem Stadtteil „Gizdova mahala“, in dem vor allem Personen mit Roma-Herkunft wohnen. In den Jahren 1999 und 2000 installierte das Stromversorgungsunternehmen CHEZ RB in diesem Stadtteil die Stromzähler aller ihrer Kunden an den Betonmasten des Freilei­tungs­netzes in einer Höhe von sechs bis sieben Metern. In den anderen Vierteln der Stadt (in denen weniger Roma wohnen) ließ CHEZ RB die Zähler hingegen in einer Höhe von 1,70 Meter installieren, meist direkt in den Wohnungen der Kunden oder an Fassaden oder Zäunen. Nach Ansicht von CHEZ RB wurde diese unter­schiedliche Behandlung durch eine erhöhte Zahl von Manipulationen und Beschädigungen der Zähler und zahlreiche illegale Stromentnahmen in dem fraglichen Stadtteil gerechtfertigt.

Beschwer­de­führerin fühlt sich durch Praxis des Strom­ver­sor­gungs­un­ter­nehmens diskriminiert

Im Dezember 2008 erhob Frau Nikolova bei der Komisia za zashtita ot dikriminatsia (KZD) (Kommission für den Schutz vor Diskriminierung) eine Beschwerde mit der Begründung, die Installation der Zähler an einem unzugänglichen Ort beruhe darauf, dass die meisten Bewohner des fraglichen Stadtteils Personen mit Roma-Herkunft seien. Obwohl sie selbst keine Roma sei, werde auch sie durch diese Praxis von CHEZ RB diskriminiert.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur Frage einer möglichen Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft

Die KZD kam zu dem Schluss, dass Frau Nikolova im Vergleich zu Kunden, deren Zähler an leicht zugänglichen Orten installiert worden waren, tatsächlich diskriminiert worden sei. Gegen diese Entscheidung erhob CHEZ RB Klage beim Verwal­tungs­gericht Sofia-Stadt (Administrativen sad Sofia-grad). Dieses Gericht reichte beim Gerichtshof ein Vorab­ent­schei­dungs­er­suchen ein, um klären zu lassen, ob die beanstandete Praxis eine unzulässige Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft darstellt.

Benachteiligung aufgrund ethnischer Herkunft kann auch Personen anderer Herkunft betreffen

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst klar, dass der Gleich­be­hand­lungs­grundsatz nicht nur auf Personen mit einer bestimmten ethnischen Herkunft anwendbar ist, sondern auch auf Personen, die zwar selbst nicht die betreffende Herkunft aufweisen, die aber durch eine diskri­mi­nierende Maßnahme zusammen mit den Personen, die diese Herkunft aufweisen, weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt werden.

Nationales Gericht muss tatsächliche Gründe für Praxis des Strom­ver­sor­gungs­un­ter­nehmens prüfen

Zweitens weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Umstand, dass in dem fraglichen Stadtteil auch Bewohner leben, die keine Roma sind, es als solcher nicht ausschließt, dass die fragliche Praxis aufgrund der ethnischen Herkunft (d. h. der Roma-Herkunft) des überwiegenden Teils der Bewohner dieses Stadtteils eingeführt wurde. Es ist indessen Sache des bulgarischen Gerichts, sämtliche mit dieser Praxis zusam­men­hän­genden Umstände zu würdigen, um festzustellen, ob diese Praxis tatsächlich aus einem solchen ethnischen Grund eingeführt wurde und damit eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne der Richtlinie darstellt.

Streitige Praxis beruht voraussichtlich auf ethnischen Stereotypen oder Vorurteilen

Zu den in diesem Zusammenhang zu berück­sich­ti­genden Gesichtspunkten gehört insbesondere der Umstand, dass die streitige Praxis nur in Stadtteilen eingeführt wurde, in denen überwiegend bulgarische Staats­an­ge­hörige mit Roma-Herkunft wohnen. Außerdem spricht die Tatsache, dass CHEZ RB bei der KZD behauptet hat, die Beschädigungen und illegalen Stromentnahmen seien hauptsächlich von Roma begangen worden, dafür, dass die streitige Praxis auf ethnischen Stereotypen oder Vorurteilen beruht.

Bewohner eines Stadtteils können in ihrer Gesamtheit als potenzielle Urheber illegaler Handlungen angesehen werden

Das bulgarische Gericht wird darüber hinaus zu berücksichtigen haben, dass die streitige Praxis einen zwingenden, verall­ge­mei­nerten und dauerhaften Charakter trägt. Denn zum einen wurde sie unterschiedslos auf alle Einwohner des Stadtteils unabhängig davon erstreckt, ob deren individuelle Verbrauchs­zähler Gegenstand von Manipulationen oder illegalen Stromentnahmen waren und wer diese gegebenenfalls verübt hatte. Die fragliche Praxis kann deshalb so aufgefasst werden, dass die Bewohner dieses Stadtteils in ihrer Gesamtheit als potenzielle Urheber derartiger illegaler Handlungen angesehen werden. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die fragliche Praxis eine ungünstige Behandlung der Bewohner des betreffenden Stadtteils darstellt, weil sie zum einen einen beleidigenden und stigma­ti­sie­renden Charakter trägt und es zum anderen für die Betroffenen außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich ist, ihren Stromzähler abzulesen, um ihren Verbrauch zu kontrollieren.

Praxis des Strom­ver­sor­ger­un­ter­nehmens kann zumindest mittelbare Diskriminierung darstellen

Drittens weist der Gerichtshof für den Fall, dass das bulgarische Gericht die streitige Praxis nicht als eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft beurteilen sollte, darauf hin, dass es sich bei dieser Praxis grundsätzlich um eine mittelbare Diskriminierung handeln könnte. Auch wenn nämlich diese Praxis ausschließlich deshalb ins Werk gesetzt worden sein sollte, um in dem fraglichen Stadtteil vorgekommenen Manipulationen und Beschädigungen entge­gen­zu­wirken, verhielte es sich dennoch so, dass sie auf dem Anschein nach neutralen Kriterien beruht, aber gleichzeitig in erheblich größerem Maße Personen mit Roma-Herkunft beeinträchtigt. Sie würde damit Personen mit einer derartigen ethnischen Herkunft in besonderer Weise benachteiligen.

Strom­ver­sor­gungs­un­ter­nehmen muss Nachweis für tatsächliche Manipulation und Beschädigung der Stromzähler erbringen

Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass die Gewährleistung der Sicherheit des Elektri­zi­täts­netzes und die ordnungsgemäße Erfassung des Stromverbrauchs zwar rechtmäßige Ziele bilden, die grundsätzlich eine solche Ungleich­be­handlung rechtfertigen könnten. Allerdings obläge CHEZ RB der Nachweis, dass in dem betreffenden Stadtteil tatsächlich Manipulationen und Beschädigungen von Stromzählern begangen wurden und dass eine solche Gefahr noch immer besteht. Auch wenn es sich bei der streitigen Praxis um ein zur Erreichung der angegebenen Ziele geeignetes Mittel handelt, stellt der Gerichtshof jedoch klar, dass von dem bulgarische Gericht zu prüfen sein wird, ob es nicht andere geeignete und weniger einschneidende Mittel gibt, um den aufgetretenen Probleme zu begegnen.

Streitige Praxis des Strom­ver­sor­gungs­un­ter­nehmens erscheint in jedem Fall unver­hält­nismäßig

Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass selbst dann, wenn es keine andere ebenso wirksame Maßnahme wie die streitige Praxis geben sollte, um die angegebenen Ziele zu erreichen, diese Praxis im Hinblick auf diese Ziele und die legitimen Interessen der Bewohner des betreffenden Stadtteils als unver­hält­nismäßig erscheint. Es wird Sache des bulgarischen Gerichts sein, dies abschließend zu beurteilen, wofür es insbesondere den Umstand zu berücksichtigen haben wird, dass die fragliche Praxis einen beleidigenden oder stigma­ti­sie­renden Charakters trägt, sowie die Tatsache, dass mit dieser Praxis den Bewohnern eines gesamten Stadtteils unterschiedslos und seit sehr langer Zeit die Möglichkeit verwehrt wird, ihren Stromverbrauch regelmäßig zu kontrollieren.

Erläuterungen

* Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleich­be­hand­lungs­grund­satzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180, S. 22).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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